„Nun tragen die Berufsfachverbände große Verantwortung“

Wieland Dietrich

Digitalisierung, ärztlich-ethisches Handeln oder GOÄ-Reform: Auf dem 120. Deutschen Ärztetag wurden diverse Anträge mit großer Mehrheit beschlossen. Wieland Dietrich, Vorsitzender der Freien Ärzteschaft (FÄ), war in Freiburg vor Ort – und stand mehrfach hinter dem Rednerpult. Welches Fazit zieht er nach dem Abpfiff des Spiels? Ein Interview mit dem änd.

Herr Dietrich, welche Stimmung haben Sie in Freiburg erlebt? Waren die Debatten so kontrovers und von Sachargumenten geprägt, wie Sie sich das im Vorfeld gewünscht hatten?

Nun, das war unterschiedlich. Insgesamt ist meine Bewertung aber, dass die Diskussionskultur unter den Delegierten des Deutschen Ärztetages verbesserungsbedürftig ist. Das mag zum einen daran liegen, dass Delegierte des Marburger Bundes oft stromlinienförmig dem folgen, was von ihren Vertretern auf dem Podium vorgegeben wird. Andererseits liegt es womöglich am mitunter mangelnden Kenntnisstand mancher Delegierter, was durch die Ehrenamtlichkeit und auch durch eine größere Fluktuation erklärbar ist, vor allem in den Reihen der Niedergelassenen. Ein struktureller Nachteil von Ehrenamtlichen gegenüber den Vollfunktionären.

Im Zentrum des Ärztetages stand diesmal das Thema Digitalisierung. Auch die Delegierten der Freien Ärzteschaft waren in der Sache aktiv und haben Anträge initiiert. Konnten Sie Ihre Sicht der Dinge ausreichend verdeutlichen?

Da bin ich gar nicht unzufrieden. Den politisch mit Sanktionsandrohungen bewährten Mainstream des unkritischen „Weitermachens um jeden Preis“ bei der Digitalisierung konnten wir mit wichtigen Beschlüssen aufbrechen. So hat der Ärztetag auf unsere Anträge hin beschlossen, dass bereits wegen der Gefahr von Cyberangriffen eine dezentrale Datenhaltung und strenger Datenschutz vonnöten sind, und dass wir eine dezentrale Punkt-zu-Punkt-Kommunikation im Gesundheitswesen wollen.

Mit der Feststellung, dass für das Projekt „Elektronische Gesundheitskarte“ eine sichere digitale Identität und evaluierte Tests unabdingbar sind, haben die Delegierten dieser e-Card mit ihren ungeprüften Fotos ebenso eine Absage erteilt wie dem Versichertenstammdatenmanagement, bei dem Tests weder ausreichend durchgeführt, noch abgeschlossen, noch objektiv bewertet wurden. Und: Die Abläufe in Arztpraxen und Klinken dürfen durch den Datenabgleich nicht gestört werden.

Sascha Lobo hat in seinem Vortrag zu Digitalisierung und Gesundheitsmonitoring wiederholt den Begriff „gruselig“ verwendet, und ich selbst habe klar gefordert, Vorsicht walten zu lassen bei ungezügelter Fernbehandlung und unkontrollierter Digitalisierung, aus ethischen, qualitativen und nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen. Bestätigung erfuhr ich im Nachgang von Justiziaren ausgerechnet aus dem süddeutschen Raum. Dürfen Ärzte bei diesem Thema weniger gründlich sein als Juristen? Der Ärztetag hat zumindest erhebliche Bedenken angemeldet, auch wenn es Statements und Beschlüsse im Sinne von „es muss doch endlich vorangehen mit der Digitalisierung – auch wenn keiner weiß wie und wohin“ gab. Bezeichnend war, dass es während des gesamten Ärztetages zu teils erheblichen technischen Störungen kam, von schlechtem WLAN über ausgefallene Mikrofone bis zum Versagen der Diasteuerung am letzten Tag.

Der vergangene Donnerstag stand ganz im Zeichen der GOÄ-Debatte. Der beschlossene Antrag sichert der Spitze der Bundesärztekammer – unter genau definierten Bedingungen – Handlungsfreiheit zu. Hätten sie sich einen anderen Ausgang der Beratungen gewünscht?

In der Tat hätte ich das. Für mich ist es nicht verständlich, dass man dem BÄK-Vorstand einen solchen Persilschein gab, denn die Bedingungen sind völlig unzureichend. Besonders nach dem Skandal von vor einem Jahr, als Herr Montgomery einen noch viel desaströseren GOÄ-Entwurf dem BÄK-Vorstand vorlegte, der dann auch durch unsere Informationsarbeit im Vorfeld abgelehnt wurde, gab es keinen Vertrauensvorschuss mehr.

Wir haben beantragt, dass der abschließende Entwurf nun nicht nur mit den Berufsverbänden abgestimmt, sondern einem nächsten Ärztetag zur Beschließung vorgelegt werden muss. Warum so viele Delegierte das nicht wollten, mögen sie ihren Wählern erklären. Mir missfällt eine solche Selbstbeschneidung des höchsten Gremiums der Ärzteschaft. Und unser Antrag, die Datenstelle nach der GOÄneu auf drei Jahre zu befristen, um eine Budgetierung strukturell auszuschließen, wurde an den Vorstand überwiesen. Das Motto der großen Mehrheit war wohl „Augen zu und durch“ – eine eher bedenkliche politische Strategie. Natürlich spielten auch Verbandelungen und Abhängigkeiten nicht weniger Delegierter, die verschiedene Positionen innehaben, eine Rolle. Das wurde mir selbst mitgeteilt. Nun tragen die Berufsfachverbände im weiteren Prozess große Verantwortung, während sich Landesärztekammern und ÄT-Delegierte davon verabschiedet haben. Ob dieser Ärztetag ein Lahnstein II mit Budgetierung auch in der GOÄ wird – diesmal arztinduziert – wissen wir in wenigen Jahren. Das wird dann untrennbar mit den Namen Reinhardt und Montgomery verbunden sein. Aber vielleicht findet der BÄK-Vorstand die Begrenzung der Datenstelle auf drei Jahre ja auch unverzichtbar, wer weiß. Falls nicht, nimmt man die Datenstelle als Strukturelement für Budgetierung dort bewusst in Kauf.

Die anstehende Bundestagswahl warf ja diesmal auch ihren Schatten auf den Ärztetag: Bundesärztekammerpräsident Montgomery hielt ein Plädoyer gegen die Bürgerversicherung und auch Bundesgesundheitsminister Gröhe positionierte sich eindeutig. Könnten Sie deren Aussagen unterschreiben?

Das war für mich das politisch Erfreulichste an diesem Ärztetag, es ist auch die Position der Freien Ärzteschaft.

Wo wir gerade bei der Bundespolitik sind: Wie – und mit welchen Themen – sollte sich die Ärzteschaft Ihrer Meinung nach in den nächsten Wochen in die politische Diskussion einbringen?

Wichtig ist eine klare Positionierung gegen die Bürgerversicherung im öffentlichen Raum, auch in den Praxen. Und es gilt die Wichtigkeit des Prinzips „ambulant vor stationär“ zu vertreten, was aber nur geht, wenn die Mittel auch der Leistung folgen. Überwindung von Sektorengrenzen geht nur mit Überwindung von Budgetgrenzen. Damit einhergehend sollten die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen die Bedeutung der wohnortnahen Haus- und Facharztpraxen für gute Medizin unmissverständlich hervorheben. Mit jeder verschwundenen Praxis verschlechtert sich die Behandlungssituation der Patienten, Wege werden weiter und Behandlungsbedarfe an Kliniken nehmen zu, während das System dadurch immer teurer wird.

Es gilt aber auch darauf hinzuweisen, dass Kaputtsparen und Hyperbürokratie gute ambulante Medizin immer mehr erschweren – dass dies jedoch nicht von den Ärzten, sondern von Krankenkassen und Politik zu verantworten ist. Diese Klarstellung ist wichtig, weil Ärzte als Rationierungshandlanger und Budgetbüttel missbraucht werden sollen, während Politik und Kassen weiter das Bild von Milch und Honig präsentieren.

Am 17. Juni organisiert die Freie Ärzteschaft den „Kongress Freier Ärzte“ in Berlin. Wird die Bundestagswahl dort auch Thema sein?

Wir wollen Meinungsbildner sein, ohne jedoch Wahlkampf für die eine oder andere Partei zu machen – das haben wir nie gemacht. Klar geht es um gesundheitspolitische Positionen wie die Frage der Verwendung der Pflichtbeiträge der GKV-Patienten, Bürokratie und Planwirtschaft, das GKV-Einheitssystem, Unfreiheiten der GKV-Patienten, eine verantwortungsvolle Positionierung gegenüber Digitalisierung, der Behandlungsqualität, die nicht nur auf dem Papier steht, um Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung.

Die erste Diskussion auf Ihrem Kongress trägt die Überschrift „Geld und Diagnosen“. Worüber genau wollen Sie dort sprechen?

Thema ist der morbiditätsorientieren Risikostrukturausgleich, nach dem das Geld aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen verteilt wird. Bereits der Begriff ist falsch, denn er suggeriert, dass man Morbidität messen könnte, was aber gar nicht geschieht und außer in einem unendlich komplexen Kontrollsystem auch gar nicht möglich ist. Tatsächlich werden nur Diagnosen gemessen, ein Surrogatparameter für Morbidität und der Versuch, das Individuum Mensch zu kategorisieren. Diese Systematik führt auf Seiten der Kassen zu Verkrankung und Upcoding, auf Seiten der Ärzte zur Banalisierung des Menschen, zu Schubladenmedizin und zur monetären Fremdsteuerung. Die Freie Ärzteschaft ist der Auffassung, dass der Behandlungsaufwand beim Patienten bezahlt werden muss – das ist etwas ganz anderes als die Bezahlung nach Diagnosen. Die gesamte Mittelverteilung gehört neu überdacht – zugleich muss über Steuerungsinstrumente gesprochen werden, an denen der Patient aber beteiligt ist.

Sie wollen in Berlin auch darüber diskutieren, ob es eine „Privatversicherung für alle“ geben könnte. Wer sind Ihre Diskussionspartner – und wie wollen Sie das Thema angehen?

Hier dient das Schweizer Modell als Diskussionsgrundlage. Der Schweizer Bürger hat eine deutlich größere Autonomie als der deutsche GKV-Patient, was die Inanspruchnahme von Medizin und seinen Einfluss auf die Kosten anbelangt. Wer vom mündigen Patienten spricht, und dies ehrlich meint, muss das berücksichtigen. Wir sprechen unter anderem mit Felix Schneuwly, einem Kenner des Schweizer Gesundheitswesens und Versicherungssystems, und mit Prof. Wagner, Mitglied des Sachverständigenrates für Verbraucherpolitik. Dadurch, dass immer mehr GKV-Patienten die Mängel des hiesigen Systems und den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität erkennen, kann der Boden für eine Öffnung in Richtung eines Kostenerstattungssystems auch in Deutschland bereitet werden.

Welche weiteren Themen planen Sie für den „Kongress Freier Ärzte“ und wie können sich die Kollegen anmelden?

Es geht auch um Datenschutz, um Schweigepflicht, um den Umgang mit politischen Sanktionsmaßnahmen gegenüber Ärzten, die ihre Patientendaten dezentral halten und schützen wollen. Für den einzelnen Arzt ergeben sich verschiedene Handlungsoptionen. Eine davon ist die Stand-alone-Lösung, sofern es nicht gelingt, das Versichertenstammdatenmanagement infolge erheblicher Probleme, die bei der überstürzten Umsetzung zu erwarten sind, doch noch ganz weg zu bekommen – eine mehrfach erhobene Forderung der deutschen Ärzteschaft. Anmeldungen gerne an über das Büro der Freien Ärzteschaft.

(Anm. d. Redaktion: per Mail: mail@freie-aerzteschaft.de, telefonisch: 0201 68586090, oder Fax: 0201 755816)

Quelle: änd vom 31.05.2017, Interview: Jan Scholz