Die “Gröhe-Sprechstunde”

Ob Termin-Servicestelle oder Portalpraxis – die Gesundheitsreformen der Großen Koalition laufen ausnahmslos gegen die Interessen der Vertragsärzte. Was steckt dahinter? FÄ-Vize Dr. Silke Lüder erläutert das ausführlich in einem Artikel im aktuellen KVH-Journal.

Die Große Koalition macht Nägel mit Köpfen. Wegen ihrer großen Mehrheit im Bundestag rauschen gerade alle möglichen Reformen durch, die von Politikern wie Karl Lauterbach lange gefordert wurden, in den aufwändigen Gesetzesverfahren und im Clinch der widerstreitenden Interessen des Gesundheitswesens jedoch bisher stecken geblieben sind. Die Goko kann durchregieren. Die verfasste Ärzteschaft ist wegen ständig neu inszenierter Querelen an der KBV-Spitze als ernstzunehmende Widerstandsquelle ausgeschaltet, endlich kann man in Berlin die Weichen vollständig in Richtung vorgeschriebener Behandlungspfade, angestellter MVZ-Ärzte, staatlich vorgeschriebener totaler Datenüberwachung und hoher Renditeerwirtschaftung international agierender großer Gesundheitswirtschaftskonzerne stellen.

Knallhart gedeckelt

Ambulant vor stationär? Wohnortnahe haus- und fachärztliche Versorgung? Das ist alles Schnee von gestern. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass unsere Gesundheitspolitiker davon schon eine ganze Weile gar nicht mehr sprechen? Wozu in den Arztpraxen bleiben, wenn doch die Kliniken jeden behandeln können? Hier schlägt das neue „Krankenhausfinanzierungsgesetz“ ordentliche Pflöcke ein. An jeder für die Notfallbehandlung zugelassenen Klinik soll eine „Portalpraxis“ eingerichtet werden, entweder von der KV mit KV-Ärzten oder von der Klinik mit Klinikärzten besetzt. Alles wird aus unserem Honorar-Topf bezahlt – aber nicht wie bei uns knallhart gedeckelt und budgetiert, nein, unbudgetiert, ungedeckelt. Und es sollen nicht die Billigpreise sein, die wir für die Behandlung eines Patienten in drei Monaten bekommen, nein, die Kliniken fordern 120 Euro für jeden Fall. Auf die Voraussetzung des „Facharztstatus“ und der persönlichen Leistungserbringung durch den Facharzt will man verzichten. (Zumindest ist das auf der Bundesebene noch in der Diskussion.)

Und wozu wohnortnah versorgen? Wir können doch alles per Telemedizin richten. Schließlich will die Telemedizin-Industrie ja auch etwas verdienen. Und weil das alles noch nicht reicht, wurde vorher schon im „Versorgungsstärkungssetz“ (VSG) die „Gröhe-Sprechstunde“ eingeführt. Die Termin-Servicestellen sollen ab 23. Januar 2015 eingeführt werden.

Was wir immer schon wussten, hat die OECD in ihrer jüngsten Auswertung bestätigt: Im internationalen Vergleich sind die Wartezeiten in Deutschland „sehr gering“. Die Wartezeitendebatte bezeichnete die OECD daher als „Phantomdebatte“. Überdurchschnittlich hoch ist in Deutschland aber die Inanspruchnahme des Systems, vor allem in Bezug auf Arztkonsultationen und Arzneimittelkonsum. Außerdem ist die Anzahl der Klinikbetten viel zu hoch. (DÄB, 4.11.2015). Ob Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe solche statistischen Auswertungen liest? Den Eindruck hat man nicht – eher das Gefühl, dass Gröhe und Lauterbach ein gut funktionierendes System schleifen und durch staatsmedizinische Strukturen ersetzen möchten. Hier schlägt Ideologie Realität. Und zwar bei CDU/CSU und SPD gleichermaßen.

Wartezeit verkürzen

„So nutzen Sie ihren Hausarzt als Turbo für rasche Termine“, schrieb die Bunte am 19. November 2015. Zwischen Berichten über die Garderoben von Heidi Klum und Otto Waalkes bei der letzten Bambi-Verleihung findet sich ein seitenlanger Artikel zur Frage: Wie kommt man am besten an einen schnellen Arzttermin? Bunte weiß Rat: „Bitten Sie ihren Hausarzt, dass er in der Praxis des Facharztes anruft und den Termin für Sie (persönlich) vereinbart. Das kann die Wartezeit um Wochen verkürzen.“Außerdem gebe es ab 2016 ja spezielle Servicestellen, die dem Patienten binnen vier Wochen zum Arzttermin verhelfen. Allerding sei fraglich, ob die Telefonhotlines wie geplant an den Start gehen.Aha, die Gröhe-Sprechstunde im Anmarsch. Stimmt, auch die Bunte hat schon gehört, dass die KBV und die Praxissoftwarefirmen es bis zum Stichtag wohl nicht schaffen werden, die ganze Sache „online“ zu schalten.Auf die Idee, zu fragen, warum die Termine in den Facharztpraxen oft ein bisschen dauern, wenn man als Wahlgeschenk die Praxisgebühr ersatzlos abschafft, kommen weder die Bunte noch Gröhe. Die Erkenntnisstufe scheint bei beiden gleich hoch zu sein.

Fragen über Fragen

Die Inanspruchnahme der Klinikambulanzen für Bagatellfälle ist bundesweit massiv angestiegen. Die Fallzahlen bei Hamburger Haus- und Facharztpraxen sind in den letzten Jahren ebenfalls gestiegen (von 1/2012 bis 1/2015 um neun Prozent), natürlich für das gleiche Geld. Dass die weniger als zehn Prozent Privatpatienten in den Fachgruppen mit längeren Wartezeiten wie Psychotherapie, Kardiologie, Psychiatrie, Rheumatologie, Pneumologie, Orthopädie, Haut und Augen alle Termine verstopfen, kann man niemandem weismachen, der des logischen Denkens mächtig ist.

1970 war der Anteil der GKV-Ausgaben für Praxen und Kliniken in Deutschland übrigens nahezu gleich. Seither sind viele besonders kostenträchtige Bereiche aus den Kliniken in die Arztpraxen gewandert. Onkologie, Infektologie, Diabetologie, Rheumatologie, Strahlentherapie und des Weiteren mehr. Die Zahl der Krankenhausbetten ist zurückgegangen. Trotzdem geben die GKV-Kassen für die Praxen heute nicht mal mehr halb so viel aus wie für die Kliniken (BfG, Kennzahlen für die GKV).

Das ist die Realität, und trotzdem tun unsere Politiker gerade alles, aber auch alles dafür, den freiberuflichen Arztpraxen ihre Wirtschaftsgrundlage zu entziehen. Alles Geld für die politischen Planungen soll aus dem gedeckelten Topf der Praxisärzte entzogen werden. Das Geld für die Portalpraxen wird als „Vorabzug“ aus der „Morbiditätsorientierten Gesamtvergütung“ (MGV) genommen – vor der Aufteilung in Haus- und Facharzttopf. Die Kosten für die „Gröhe-Sprechstunde“ werden als Strafmaßnahme dem jeweiligen Topf der Fachgruppe entzogen werden. Das Callcenter, welches die Termine vermittelt, wird natürlich von uns bezahlt. Wenn es nicht gelingt, innerhalb von einer Woche einen Termin für den Versicherten in den nächsten vier Wochen zu organisieren, geht der Patient in die Klinik. Auf Kosten der „Fachgruppe“.

Die meisten Kliniken haben keine Fachabteilungen für Haut, Neurologie, HNO, Augenheilkunde, Rheuma oder Lungenkrankheiten. Wer also wird die Patienten dort behandeln? Der Assistenzarzt aus der Inneren Abteilung? Fragen über Fragen. Völlig klar ist: Hier droht eine ganz eklatante Ungleichbehandlung zwischen Kliniken und Praxen. Wenn in der Praxis eine EBM-Ziffer aus dem Fachgebiet abgerechnet wird, darf das nur der zugelassene Facharzt für das Fachgebiet abrechnen. Anderenfalls ist das „Abrechnungsbetrug“. In den Kliniken soll das alles plötzlich nicht mehr gelten. Wann wird es hier die ersten berechtigen Klagen geben?

Wir fragen uns schon lange: Warum wird langsam aber sicher ein System erodiert, um welches uns immer noch die ganze Welt beneidet? Will man keine ärztlichen Freiberufler mehr, weil sie als persönlich Verantwortliche für ihren Betrieb schlecht staatlich zu steuern sind? Weil sie seit zehn Jahren nicht bereit sind, die ärztlichen Arbeitsergebnisse namens „Patientendaten“ herauszurücken und damit ihre Schweigepflicht aufzugeben? Weil gerade die hocheffizienten Facharztpraxen eine ganz große Konkurrenz zu den vier privaten Klinikkonzernen sind, die inzwischen die kommunalen Kliniken aufgekauft haben und sich zusätzlich noch ein Stück von ambulanten Kuchen sichern wollen? Wie viel Lobby-Einfluss haben die Klinikvertreter im Bundestag, und wie schwach sind wir inzwischen? Unsere Spaltung in unterschiedliche Fachgruppen und eine Unzahl von konkurrierenden Verbänden sowie und das Berliner KBV-Theater haben inzwischen tiefe Spuren hinterlassen.

Stoppschild aufstellen

Es liegt ganz alleine an uns! Jeder von uns Hausärzten hat nervtötende Patienten, die egozentrisch denken und die glauben, sie seien alleine auf der Welt und bräuchten auf der Stelle einen Facharzttermin für seit Monaten bestehende Befindlichkeitsstörungen. Die fordern, dass wir als Hausarzt diesen Termin auf der Stelle organisieren sollen. Was wir sonst gerne tun, aber nicht entsprechend dem Grad des Nervens, sondern nur (!) im Falle einer wirklichen Dringlichkeit. Über die wir bisher ganz alleine entscheiden konnten. Und das sollten wir als Hausärzte auch weiter so halten. Es liegt ganz alleine an uns, ob wir aus Bequemlichkeit den Patienten eine Überweisung mit einem Aufkleber in die Hand drücken, der ihn als „dringlich“ genug qualifiziert, um einen Gröhe-Termin zu bekommen – auch wenn es sachlich nicht angebracht ist und wir damit ein System stärken, welches auch die Abschaffung unserer eigenen Freiberuflichkeit zum Ziel hat.

Es liegt an uns! Wir müssen diese Entwertung und Entmachtung unserer verantwortlichen ärztlichen Entscheidung nicht mitmachen! Wir sollten hier genau wie bei der geplanten Einrichtung von „Portalpraxen“ ein Stoppschild aufstellen! Denn wenn an jeder Klinik eine Portalpraxis von uns finanziert wird, wird der Topf, aus dem unsere Grundleistungen bezahlt werden, ganz schnell in sich zusammenfallen.

Und hier geht es genau wie bei der „Gröhe-Sprechstunde“ um uns alle. Wir müssen niemanden an die „Gröhe-Sprechstunde“ überweisen! Die Patienten werden eh schnell merken, dass sie weder einen Wunschtermin noch einen Wunscharzt bekommen werden.

Nicht spalten lassen! Getrennt werden wir gemeinsam untergehen. Die „Gröhe-Sprechstunde“ ist staatlich induzierter Unsinn. Und die Portalpraxen gefährden unsere Praxen und ein augenblicklich in Hamburg noch sehr gut funktionierendes Notdienstsystem.

Nur gemeinsam können wir den geplanten politischen Nonsense auf ein Minimum beschränken. Tun wir es also!

KVH-Journal 1/2016

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