Dr. med Axel Brunngraber – ein mutiger Freidenker und begnadeter Rhetoriker

Am 20. September ist unser Kollege, der Internist Dr. Axel Brunngraber überraschend gestorben. Er war in Hannover 33 Jahre als hausärztlicher Internist niedergelassen. Sein berufspolitisches Engagement: Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der freien Ärzteschaft und in Niedersachsen ihr Vorsitzender. Ferner war er Mitglied der Ärztegenossenschaft Niedersachsen-Bremen (ägnw) und von 2011 bis 2020 Mitglied der Vertreterversammlung der KVN. Von 2006 bis 2019 war er Mitglied der Kammerversammlung der Ärztekammer Niedersachsen. In den Jahren 2011 bis 2020 niedersächsischer Delegierter für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Achtzehn Jahre war er ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht Hannover.

Mein berufspolitischer Weggefährte, Kollege und Freund Axel hinterließ bei mir bereits bei unserer ersten Begegnung auf einer berufspolitischen Veranstaltung der Ärztegenossenschaft (ägnw) an der Medizinischen Hochschule Hannover in den „Nullerjahren“ den tiefen Eindruck eines scharfzüngig argumentierenden, in seiner Überzeugung unerschütterlichen freien Geistes. Ich lernte ihn schnell kennen und schätzen als einen unbeugsamen, energischen Kämpfer für die ärztliche Freiberuflichkeit. Aus der Überzeugung urärztlicher Prinzipien und gesegnet mit einer unverwechselbaren individuellen Sprachgewalt trat er stets energisch externen Bevormundungen und Vereinnahmungen entgegen. Nicht immer konnten ihm alle Zuhörer folgen – da schließe ich mich selbst nicht aus –, wenn er in meist spontanen, mitunter auch recht langen, aber nie langweiligen (!) Redebeiträgen politische Entwicklungen messerscharf analysierte, einordnete, kommentierte und mit unnachahmlichen Sprachbildern oder Parabeln garnierte. Dabei hatte er meist die Lacher auch berufspolitischer Gegner auf seiner Seite. Mit seiner brillanten Rhetorik und seinem Denksprechvermögen erzeugte er sowohl bei Gleichgesinnten wie auch bei politischen Gegnern Respekt. Er sprach meist minutenlang völlig frei, hatte nicht mal einen Stichwortzettel in der Hand. Ihm fielen buchstäblich beim Reden wie zufällig die treffendsten Vergleiche ein. Dabei offenbarte er ein hohes Maß an Allgemeinbildung. Besonders seine tiefen Kenntnisse über Geschichte, Geistesgeschichte, Philosophie, Politik und Literatur sowie sein grandioser Humor waren beeindruckend. Unvergessen seine Forderung nach der „Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft des SGBV“ oder seine Kommentierung der zahllosen Gesetzesinitiativen der Gesundheitspolitik als „legislative Stalinorgel“. Axel Brunngraber hat die Ärzteproteste 2005 bis 2007 aktiv mitgestaltet. Ohne organisatorische Hilfe produzierte er für die Demonstrationen im Alleingang originelle Fotomontagen und verteilte sie als Anstecker oder Plakate.

Axel beeindruckte durch seine philosophische Reflexion, seine Originalität aber auch besonders durch seine sehr menschliche, soziale Einstellung und seine Bescheidenheit. Er war völlig uneitel, wirklich frei und unabhängig. Er fühlte sich ganz und gar dem individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis verpflichtet, in das sich – so seine ethische Grundüberzeugung – kein Dritter einmischen darf. Derartige, oft verschleierte Versuche seitens der Politik oder der Krankenkassen konnte er glasklar entlarven und schonungslos brandmarken wie beispielsweise die politisch motivierte Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematik-Infrastruktur. Darin sah er einen Angriff auf die ärztliche Schweigepflicht. In der schleichenden Kommerzialisierung und Kollektivierung inhabergeführter Praxen sah er die Gefahr für die Selbständigkeit und die freie Berufsausübung von Ärztinnen und Ärzten. Zwei seiner gesundheitspolitischen Vorbilder waren Paul Unschuld und Giovanni Maio. Beiden verschaffte er durch sein Engagement Auftritte in der vertragsärztlichen Selbstverwaltung Niedersachsens. Für Axels gesundheitspolitisches Credo war jedoch vor allem Michael Noweski bedeutend mit seiner Arbeit: „Der unvollendete Korporatismus: staatliche Steuerungsfähigkeit im ambulanten Sektor des deutschen Gesundheitssystems“ von 2004. Axel dazu: „Diese Studie von Noweski zeigt erschreckend, wie eine vormals offensive Ärztevertretung von der Politik trickreich auf Taschenformat eingedampft werden konnte.“

Axel ermahnte die Ärzteschaft, dass sie wie er es einmal formulierte, „anstelle eines emsigen Befolgens zunehmend kafkaesk erscheinender bürokratischer Vorgaben die gemeinsam tragende mitmenschliche Beziehung zum Patienten in den salutogenetischen Mittelpunkt ihrer professionellen Kunst stellen“ solle. Die ärztliche Selbstverwaltung von Kammer, KVN und KBV verliert mit ihm einen wirklich unabhängigen, mutigen Freidenker und eigenwilligen Intellektuellen. Mir persönlich wird er als Freund, liebenswerter Kollege und persönlicher Ratgeber fehlen. Wir trauern und sind mit unseren Gedanken bei seiner Ehefrau und Familie.

Dr. Jörg Berling (ehem. KV Vorsitzender), „Dr. med Axel Brunngraber – ein mutiger Freidenker und begnadeter Rhetoriker“, niedersächsisches ärzteblatt, 97. Jahrgang, Oktober 2024, S. 47