Dietrich: „Soll das Ministerium doch den Murks selber machen“

FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich (Foto: M. Wigger)
FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich (Foto: M. Wigger)

Welche Auswirkungen haben die neuen Gesetze? Welchen Stellenwert hat die Freiberuflichkeit noch für die Gesundheitspolitiker? Wie wird die Freie Ärzteschaft weiter mit dem Thema Telematik umgehen? Und was ist beim außerordentlichen Ärztetag zur GOÄ im Januar zu erwarten? Der Ärztenachrichtendienst (änd) sprach mit dem FÄ-Vorsitzenden Wieland Dietrich über die Berufspolitik in diesem Jahr – und die im Jahr 2016 anstehenden Herausforderungen.

Herr Dietrich, zum Jahreswechsel macht ein kurzer Blick zurück auf das gesundheitspolitische Jahr 2015 Sinn. Ein schweres Jahr für die niedergelassenen Ärzte?

Ja. Die Gröhe’sche Gesetzeskaskade – der von Mitgliedern der Freien Ärzteschaft kreierte und auch von KV-Vorständen übernommene Begriff der „Gröhe’schen Stalinorgel“ ist noch deutlicher – wird die Arbeit selbstständiger, freiberuflicher Ärzte zukünftig nicht leichter machen. Aber am Ende werden es die Patienten sein, die unter Bürokratie, Planwirtschaft und Mängeln bei Behandlungsstrukturen, Ressourcen und Motivation ihrer Ärztinnen und Ärzte leiden. Sie stehen am Ende der gesundheitspolitischen Zuteilungskette, die noch strammer wird.

Welche Auswirkungen könnten die von der Regierung in diesem Jahr angeschobenen Gesetzesänderungen für die Ärzteschaft im kommenden Jahr haben?

Die Ausgestaltung des Wartezeitenverwaltungsirrsinns, auch Terminservicestellen (TSS) genannt, besetzt schon seit geraumer Zeit die Gemüter und die Debatten. Vertragsärzte werden damit beschäftigt, anstatt sich um wirklich Sinnvolles zu kümmern – und werden den Quatsch auch noch über KV-Umlage zahlen müssen. Es ist absurd, TSS im Geringsten zu verteidigen, wenn eine erfolgte Terminierung am Ende mit 50 Euro mehr kostet als eine Behandlung eines Patienten bei den meisten Ärzten über drei Monate. Die Hausärzte werden unter der durch den Minister geschürten – jeder Subsidiarität entblößten – Anspruchshaltung der Bürger wohl noch mehr leiden als die Organfachärzte, weil man ihnen ja die Triage in „TSS-dringlich“ und „nicht so dringlich“ aufbürdet. Aber im Hintergrund lauert ja noch viel mehr: Praxisweitergabe-Sorgen in überversorgten Gebieten, Krankenhauseinweisungsrichtlinie mit Drohpotenzial, E-Health-Zwangsgesetz, unfairer Wettbewerb gegenüber Klinikambulanzen und möglichweise neuen MVZ-Akteuren.

Welchen Stellenwert hat die Freiberuflichkeit Ihrer Meinung nach noch für die Gesundheitspolitiker?

Praktisch keinen. Es wird zwar ständig davon gesprochen. Aber seit dem Koalitionsvertrag von CDU und SPD, konkretisiert in der aktuellen Gesetzgebung, ist klar: Das ist eine reine Floskel. Die Politik unterstützt Anstellungen, Großstrukturen, Konzerne und Kliniken. Die ärztliche Unabhängigkeit – und die ist der Kern der Freiberuflichkeit – ist den Herren Gröhe, Lauterbach und auch den Kassen nach meiner Überzeugung ein Dorn im Auge. Man will „Versorgung“ im Sinne von „Ruhe an der Versorgungs- und Beitragszahlerfront“. Das Dogma heißt Beitragssatzstabilität. Mit dem berechtigten Anspruch an gute, individuelle Medizin, an den Bedürfnissen des einzelnen Patienten ausgerichtet, werden Patienten und Ärzte im Regen stehen gelassen. Die Niedergelassenen können das im System immer weniger leisten und verlieren damit „auf Kasse“ weiter von der Freiberuflichkeit.

Aber: Wenn man sich umhört, und auch oftmals anonyme Berichte von Klinikkollegen liest, dann wird gutes ärztliches Handeln nach den Maßstäben des Freien Berufes Arzt unter ökonomischen Zwängen und Verwaltungsvorgaben auch an den Kliniken immer schwieriger. Selbst der MDK hat das in einer aktuellen Ausgabe seines Rundbriefes konstatiert. Und zu der Debatte um Fremdbestimmung in Verträgen leitender Ärzte kommt neuerdings die Mahnung von Juristen, dass Ärzten auch noch die Folgen von Organisationsversagen, das ja die Klinikverwaltungen zu verantworten hätten, angelastet werden.

Die Telematik in der medizinischen Versorgung wird uns im nächsten Jahr voraussichtlich intensiv beschäftigen. Das Ministerium macht mit dem E-Health-Gesetz Druck. Wie wird die Freie Ärzteschaft weiter mit dem Thema umgehen?

Wir werden dagegenhalten – aus Überzeugung. Das E-Health-Zwangsgesetz wird die Behandlung der Patienten in Deutschland nicht verbessern, sondern vor allem teurer machen. Und auch eine nur implizite Verpflichtung von 70 Millionen Deutschen, ihre intimsten Daten zentral speichern zu lassen, verstößt gegen Grundrechte. Herr Gröhe wird irgendwann einsehen, dass viel Geld verschleudert wurde – und dass man die große Mehrheit der Bürger und Ärzte nicht zwingen kann, ihre Gesundheitsdaten ins digitale Nirvana preiszugeben. Leider sind die Briten und Franzosen da lange klüger. Aber wenn Herr Gröhe nicht vorher kritisch ist und zum Opfer von Schalmeienklängen der Gesundheitsdaten-Industrie wird, dann wird er aus Fehlern lernen müssen.

Die ärztliche Selbstverwaltung hat in den vergangenen Monaten nicht gerade ein glänzendes Bild abgegeben. Insbesondere die Kassenärztliche Bundesvereinigung kam nicht aus den Schlagzeilen. Hat das der politischen Interessenvertretung der Ärzteschaft Ihrer Meinung nach geschadet?

Es hat dem Bild der Ärzteschaft in der Öffentlichkeit insgesamt geschadet, und das ist schlimm genug. An der Misere, dass die KVen vorwiegend noch den Mangel verwalten, kaum noch eigenen Gestaltungsspielraum haben und von der Rest-Selbstverwaltung noch mehr zu Behörden der Staatsmedizin werden, ändert das nichts. Von politischer Interessenvertretung durch KVen rede ich seit langem nicht mehr, ebenso wenig von Selbstverwaltung. Wenn es die tatsächlich noch gäbe, verstanden als eine fach- und sachkompetente Behörde, die von der Politik zu Rate gezogen wird, hätten die TSS niemals kommen dürfen. Interessenvertretung ist ja auch laut dem SGB V gar nicht die Aufgabe der KVen, sondern die Sicherstellung „in Ruhe“, wie ich bereits erläutert habe.

Was raten Sie den KBV-Delegierten für die Zukunft?

KBV und KVen werden zur „Resterampe der Versorgung“ geschrumpft. An der einen Ecke nagen Unterfinanzierung und Bürokratie, an der zweiten die Selektivverträge, an der dritten der Praxisaufkauf und an der vierten die Staatsmedizin mit kommunalen MVZ, Zentren für besondere Krankheitsgruppen und Portalkliniken.

Aus meiner Sicht hilft es nur noch, klare Kante zu zeigen, und den Auftrag zur Sicherstellung unter diesen Bedingungen ultimativ zur Disposition zu stellen. Konkret: Den Vertragsärzten muss gesagt werden, dass Kassenmedizin oftmals Rumpfmedizin ist, und dass auch sonstige Einnahmequellen, wie vom Bundessozialgericht 2010 festgestellt, vonnöten sind. Dazu gehören auch verfassungsrechtliche Fragen, etwa ob der Gesetzgeber mit einer Körperschaft so umspringen darf, denn die KVen sind vom Statut her ja nicht direkt weisungsgebunden wie etwa Anstalten des öffentlichen Rechts. Die Weigerung, das aus demokratischer Sicht absurde Paritätsgebot umzusetzen, war ein guter erster Schritt der KBV. Soll das Ministerium am Ende doch den Murks selber machen – dann wird den Journalisten endlich mal auch klar, wer eigentlich die Verantwortung trägt.

Auch ist das Streikrecht de jure und de facto einzufordern, unter Berücksichtigung der Skelettierung des Sicherstellungsauftags.

Kommen wir zur andauernden Debatte über die neue GOÄ: Im Januar gibt es sogar einen außerordentlichen Ärztetag zu diesem Thema. Die Bundesärztekammer erwartet dort Bestätigung ihrer bisherigen Verhandlungsleistung. Was erwarten Sie?

Nun, zunächst wird es heiße Diskussionen geben. Den Vertretern der BÄK werden unangenehme Fragen gestellt werden. Die Pflicht zur Einberufung dieses Sonderärztetages, der Ausschluss wichtiger, bundesweiter Repräsentanten der niedergelassenen Ärzte aus dem Plenum unter kräftiger Mitwirkung von Herrn Montgomery in Hamburg und nicht zuletzt seine PKV-nahe Rolle und Position im Ärztebeirat der Allianz PKV haben das Amt des Bundesärztekammerpräsidenten inzwischen schwer beschädigt. Der Amtsinhaber täte gut daran, auf die berechtigte Kritik einzugehen, und den GOÄ-Novellierungsprozess grundlegend auf den Prüfstand zu stellen, vor allem im Hinblick auf Rolle und Besetzung der GeKo, der gemeinsamen Kommission. Leider sieht es danach nicht aus – „Augen zu und durch“, scheint die Devise der BÄK zu sein. Ich gebe keine Prognose ab, wie das ausgeht. Sicher ist aber, dass eine ganze Reihe kritischer und engagierter Ärzte vor Ort sein werden!

Sie haben in den vergangenen Wochen mehrfach vor einer „EBMisierung“ der kommenden Gebührenordnung gewarnt. An welchen Punkten machen Sie diese Kritik fest?

Die GeKo soll in der GOÄ zur „Vermeidung unerwünschter beziehungsweise unbegründeter Honorarentwicklungen“ eine Mengensteuerung implementieren. Sie soll also dauerhaft steuernd in die Gebührenordnung eingreifen. Das ist ein typischer Budgetansatz wie im EBM. Letztendlich wollen PKV und Beihilfe damit das Morbiditätsrisiko der älter werdenden Bevölkerung und des medizinischen Fortschritts auf die Ärzteschaft verlagern! Die Geko soll „Über- und Unterbewertungen beseitigen“ – das ist ein Analogon zum Bewertungsausschuss, und es führt im Übrigen die vorgebliche betriebswirtschaftliche Kalkulationsgrundlage der einzelnen Leistung ad absurdum. Die Kommission soll sich kümmern um „Sicherung der Qualität, um Informations- und Dokumentationspflichten und wirtschaftliche Leistungserbringung“. Dies sind Aufgaben, die denen des Gemeinsamen Bundesausschusses der GKV ähneln – die Versozialrechtlichung wird offensichtlich. Und mit dem Einfachsatz, der in der Regel gelten soll, droht EBM-Einheitsmedizin auch in der GOÄ. Weg vom BGB-Vertrag – hin zu einem EBM 2.0 mit floatenden Bewertungen.

Was hat sich die FÄ für 2016 vorgenommen – auf welchen Feldern müssen Sie voraussichtlich aktiv werden?

Appeasement und Devotion schaffen nicht mehr Freiberuflichkeit. Wir machen auch 2016 klare Politik für freiberufliche und unabhängige Ärztinnen und Ärzte, letztlich zum Nutzen unserer Patienten. Dafür brauchen wir die Unterstützung, auch finanziell, von noch mehr Kolleginnen und Kollegen! Die Tätigkeitsfelder sind oben skizziert. Eine Hauptaufgabe wird sein, junge Kolleginnen und Kollegen vor falschen Erwartungen und Versprechungen, besonders was die Niederlassung als Vertragsarzt und Vertragsärztin anbelangt, zu schützen. Vertragsarzt allein und dabei noch Medizin nach „good clinical practice“ zu machen, geht künftig kaum noch. Vor allem: Es muss Schluss sein mit der Selbstausbeutung der Vertragsärzte, denn diese wurde viel zu lange von Politik und Kassen bewusst ausgenutzt.

Quelle: Ärztenachrichtendienst änd vom 30.12.2015, Interview: Jan Scholz