Zukunftsfeste ambulante Medizin mit Kostenerstattung
Mehr Transparenz, weniger Bürokratie, fairer Wettbewerb und stärkere Selbstregulierung – in vielen europäischen Ländern hat sich das Prinzip der Kostenerstattung als funktionsfähig erwiesen. Unser krisengeschütteltes Gesundheitssystem muss die alten Pfade verlassen, um zukunftsfest zu werden. Ein Ausweg: Kostenerstattung.
Ein in Deutschland 1997 eingeführtes Kostenerstattungsverfahren als zusätzliche Option für die Versicherten hatte sich bereits nach kurzer Bestandsdauer bewährt, wurde von der nachfolgenden Regierungskoalition jedoch wieder aus dem Verkehr gezogen. Nun ist eine Renaissance der Kostenerstattung als wichtiges Element einer zukunftsfesten Gestaltung der ambulanten Medizin geboten.
Wo liegt das Problem?
Das Gesundheitssystem steckt in der Krise. Die Ursachen dafür sind vielfältig: staatlich festgelegte Budgets in der ambulanten GKV-Medizin, Zweckentfremdung großer Anteile der Versichertenbeiträge für versicherungsfremde Leistungen, ausufernde Bürokratie und Selbstbedienung in den „Selbstverwaltungen“ von gesetzlichen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen, versteckte Verwendung und Verteilung der Beitragsmittel sowie unplausible Verwerfungen zwischen Beitragshöhe und Arzthonoraren. Die ordnungspolitische Wettbewerbsvoraussetzung „gleiches Honorar für gleiche Leistung in allen Sektoren“ (ambulant, tagesklinisch, stationär) wird ignoriert.
In den vergangenen Jahren wurde die Stärkung individueller Vorsorge durch mündige Bürger versäumt oder behindert. Man ignorierte, dass die ausschließlich staatliche Festsetzung der Gesundheitsaufwendungen zwangsläufig in die Mangelversorgung führen muss. Seit Jahren steuert das Gesundheitssystem in eine zunehmende Rationierung von Leistungen, weil die Kluft zwischen Bedarf und berechtigtem Anspruch der älter werdenden Bevölkerung hinsichtlich guter Medizin und der Begrenzung von Mitteln und Ressourcen immer größer wird. Nun sollen mit dem „GKV-Versorgungsstärkungsgesetz“ sogar Arztsitze abgebaut werden, gleichzeitig sollen aber Terminservicestellen den wachsenden Terminmangel beseitigen. Das kann gar nicht funktionieren und wird noch mehr Kosten verursachen.
Dabei bleiben nicht nur die bürgerlichen Freiheiten auf der Strecke – was verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist bereits beschädigt. Viele niedergelassene Ärzte sind wirtschaftlich bedroht. Überregulation, Bürokratie und Intransparenz auf allen Ebenen haben zu Fremdbestimmung geführt und die professionelle Autonomie der Ärzte reduziert. Die Folge: Ärzte wandern demotiviert ab, der berufliche Nachwuchs bleibt aus.
Die langjährige Schwächung des ambulanten Sektors stellt ein weiteres Versäumnis dar. Standen 1985 noch 22 Prozent der GKV-Mittel für den ambulanten Bereich zur Verfügung, so sind es mittlerweile nur noch 15 Prozent. Und das trotz seiner unschlagbaren Wirtschaft-lichkeit, des schwellenfreien Zugangs, der Nähe zu Bürger und Wohnort – in einer älter werdenden Gesellschaft steigt gar die Bedeutung des ambulanten Bereichs. Auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bezogen sind die ambulanten Kosten über jahrzehntelang nicht gestiegen – geschweige denn explodiert. Trotz qualitativ und quantitativ besserer Behandlungen sind die ambulanten Aufwendungen relativ zum BIP und den GKV-Ausgaben insgesamt seit Jahren gesunken.
Welche Lösungen gibt es?
Es geht hier nicht vorrangig um die Einnahmeseite von GKV oder PKV, sondern um Lösungsvorschläge für die Ausgabenseite.
Die Freie Ärzteschaft e. V. will die Stärkung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung von Versicherten und Ärzten sowie weiteren Anbietern von Gesundheitsleistungen. Dies gilt besonders für die ambulante Medizin mit ihren überschaubaren Behandlungskosten, da der Versicherte hier typischerweise eigenverantwortlich über seinen Bedarf entscheiden kann. Allerdings behindert das realitätsferne Versprechen einer allumfassenden Behandlung das kluge Handeln des Patienten. Jede Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen verursacht Kosten, die verantwortliches und selbstregulierendes Verhalten der privat oder gesetzlich Versicherten effektiver begrenzt als staatliche Kontrolle. Die erforderlichen, nachgefragten ärztlichen Leistungen können in ausreichendem Umfang und guter Qualität dauerhaft nur bei realistischer Kostenkalkulation seitens der Anbieter sichergestellt werden.
Aus diesem Grund vertritt die Freie Ärzteschaft die Auffassung, dass das System der Kostenerstattung – oder Transparenzabrechnung – als Regelprinzip in der ambulanten medizinischen Versorgung eingeführt werden sollte. Es hat sich in vielen europäischen Ländern als überaus funktionsfähig erwiesen, etwa in Frankreich, Belgien, Luxemburg, teilweise in der Schweiz oder in Österreich durch das Wahlarztsystem.
Auch in Deutschland wurde mit dem GKV-Neuordnungsgesetz zum 01.07.1997 für alle GKV-Versicherten bereits einmal ein funktionierendes wählbares Kostenerstattungsverfahren eingeführt. Diese für alle gesetzlich Versicherten zugängliche Option bewährte sich damals bereits nach kurzer Zeit. Die nachfolgende Regierungskoalition kassierte diese Option vorwiegend aus politischen Gründen allerdings wieder.
Bei der Kostenerstattung erhält der Patient/Versicherte vom Arzt beziehungsweise sonstigem Gesundheitsdienstleister eine Rechnung über die erfolgte Behandlung, die er bei seiner Kasse zur (Teil-)Erstattung einreicht und die er begleichen muss. Dieser Rechnung entnimmt der Patient – wie bereits heute in der PKV – die erbrachten Leistungen und deren Kosten und kann diese auf Plausibilität prüfen. Grundlage für die Rechnung ist eine wirklichkeitsbezogene kalkulierte Gebührenordnung (GOÄ, GOZ etc.). Das Zahlungsziel – etwa erst nach der Erstattung durch die Kasse/Zusatzversicherung – oder die Möglichkeit turnusmäßiger Sammelrechnungen bleiben Detailregelungen oder vorzugsweise eine individuelle Vereinbarung zwischen Patient und Arzt vorbehalten.
Elementarer Bestandteil der Kostenerstattung ist, dass jeder GKV-versicherte Bürger eine Zusatzversicherung abschließt, die existenziell bedrohliche Kostenrisiken für den Einzelnen abdeckt.
Was bringt Kostenerstattung?
Diese Art der Direktabrechnung hat Vorteile:
- Transparenz: Der Patient kann die Abrechnung prüfen oder prüfen zu lassen und die Angemessenheit sowie das Preis-Leistungs-Verhältnis beurteilen.
- Bürokratieabbau: Fremdkontrolle und Verwaltung werden zurückgefahren.
- Selbstregulierung: Eigen- oder Selbstbeteiligungen regulieren die Inanspruchnahme und damit die Kosten für den Bürger.
- Preiswettbewerb: Die variable Faktorenbildung in der Rechnungsstellung nach GOÄ ermöglicht einen tatsächlichen Preiswettbewerb der Ärzte und übrigen Gesundheits-berufe.
- Fairer Wettbewerb: Die einheitliche Gebührenordnung sichert einen fairen Wett-bewerb bei Nachhaltigkeit der Strukturen.
- Wahl der Versorgungsebene: Durch eine Eigen- oder Selbstbeteiligung kann der Versicherte die für ihn günstigste Versorgungsebene ermitteln.
- Berufszufriedenheit: Durch die erweiterte Autonomie nimmt die Zufriedenheit und Motivation der Ärzte wieder zu.
- Regionalisierung: Die wettbewerblich wirksame „echte Nachfrage“ nach Gesundheitsversorgung reguliert das geografisch-regionale Angebot an Ärzten und anderen Anbietern im Gesundheitswesen – planwirtschaftliche Bedarfsplanung verliert so ihren Sinn.
- Bedürftigkeit: Für Bedürftige ist eine 100%-ige Kostenerstattung als soziale Komponente wirksam, wie es das europäische Ausland bewiesen hat.
Zur Frage sozialer Bedürftigkeit vertritt die FÄ die Auffassung, dass bei dieser Bevölkerungsgruppe vom Prinzip der Rechnungsstellung an den Versicherten auch abgewichen werden kann, zugunsten einer ersatzweisen Abrechnung des Arztes oder sonstigen Heilberuflers mit der Krankenkasse oder Versicherung. Auch hier gäbe es eine wirksame Rechnungskontrolle durch den Patienten.
Die Klärung strittiger Fragen zu Art und Höhe der Abrechnung wird Aufgabe von Ausschüssen sein, die paritätisch mit Vertretern des Einkaufs (Kassen/Versicherungen) und der Anbieter (Ärzte/Zahnärzte/Apotheker etc.) unter Vorsitz eines Unparteiischen besetzt werden.
Die generelle Einführung des transparenten Kostenerstattungs-Abrechnungssystems für die ambulante Medizin in Deutschland ist ein zentrales gesundheitspolitisches Ziel der Freien Ärzteschaft. Es erlaubt die aktive konstruktive Teilhabe aller Betroffenen. Daher sollte es baldmöglich und schrittweise verwirklicht werden. Es sichert die liberale, nichtdirigistische Regulierung und den verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen.
Literatur
Lothar Krimmel: Kostenerstattung und individuelle Gesundheitsleistungen. Neue Chancen für Patienten und Ärzte. Dt. Ärzte-Verlag, Köln 1998
Kostenerstattung – ein Ausweg aus der Rationierung von Leistungen in der GKV? PVS-Verband, Berlin 2004
Michael Noweski: Der Gesundheitsmarkt. Verlag Dr. Köster, Berlin 2008
Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Bestandsaufnahme. PVS-Verband, Berlin 2007
Vorstand der Freien Ärzteschaft e. V.
Oktober 2015
Hier das Positionspapier zur Kostenerstattung herunterladen.