„Das ist eine staatliche Gesundheitsversorgung“

FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich (Foto: M. Wigger)
FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich (Foto: M. Wigger)

Einmal im Jahr diskutiert die Freie Ärzteschaft (FÄ) auf dem Kongress Freier Ärzte die Topthemen der Gesundheitspolitik. Der Ärztenachrichtendienst änd sprach mit FÄ-Chef Wieland Dietrich über die geplante neue GOÄ und die von der Politik angekündigten gesetzlichen Eingriffe in die ärztliche Selbstverwaltung. Außerdem erklärt Dietrich, warum er sich vor einer Überwachungsmedizin fürchtet, und was er von KV-Eigeneinrichtungen hält.

Herr Dietrich, in Ihrem Programm für den „Kongress Freier Ärzte“ im April in Berlin beschäftigen Sie sich unter anderem mit der Zukunft der ambulanten Medizin in Deutschland. Und kritisieren die „massiven Staatseingriffe“. Wie steht es denn aus Ihrer Sicht um die Niedergelassenen in diesem Land?

Der Zustand ist zunehmend prekär. Wir sehen auf der einen Seite die gesetzgeberische Bevorzugung von Kliniken, Stichwort Portalpraxen. Auf der anderen Seite soll es die Möglichkeit geben, kommunale Versorgungszentren einzurichten. Und kassenärztliche Vereinigungen wollen, je nach Führung, künftig verstärkt Eigeneinrichtungen organisieren in vermeintlich unterversorgten Regionen zum Zwecke der „Sicherstellung“. Die Praxen der Niedergelassenen geraten also von zwei Seiten her unter Druck: Die Kliniken drängen in die ambulante Versorgung, und der Staat könnte künftig ebenfalls ambulante Versorgungsstrukturen aufbauen.

Was sind die Gründe für diese Pro-Krankenhaus-Politik?

Da spielt der starke Lobbyismus der Krankenhäuser eine Rolle, mit ihrem großen Einfluss auf der Bundesebene und in den Regionen. Die haben einen guten Zugang zur Politik. In diesem Zusammenhang darf man auch die Zusammensetzung des Präsidiums der Bundesärztekammer nicht außer Acht lassen. Da sitzen überwiegend Klinikärzte, die eine solche Pro-Krankenhaus-Politik ebenfalls unterstützen. Jedenfalls gilt das in der Tendenz und für bestimmte Akteure besonders.

Sie haben die Pläne der Kassenärztlichen Bundesvereinigung angesprochen, künftig Eigeneinrichtungen in unterversorgten Regionen betreiben zu wollen. Können Sie dieses Vorhaben nachvollziehen?

Wir halten das ordnungspolitisch für unsinnig und kontraproduktiv. Wenn es für bestimmte Regionen keine Ärzte gibt, die sich dort niederlassen wollen, weil die Rahmenbedingungen so unattraktiv sind, wie will man dann angestellte Ärzte davon überzeugen, in KV-Praxen dort tätig zu sein? Es sei denn, man bezahlt ihnen ein Honorar, das man dem selbstständigen Arzt verweigert. Und was passiert eigentlich, wenn es in solchen Eigeneinrichtungen zu Abrechnungsfehlern oder Richtgrößenüberschreitungen kommt? Will die KV dann gegen sich selber Prüfverfahren anstrengen oder ein Regressverfahren? Das sind alles offene Fragen, die zu klären sind, und die wir KBV-Chef Dr. Andreas Gassen, den wir zu unserem Kongress eingeladen haben, stellen werden.

Hinzu kommt: Diese Eigeneinrichtungen müssen ja von allen Ärzten bezahlt werden – aus der Gesamtvergütung. Das finde ich ziemlich absurd. Das ist am Ende eine staatliche Gesundheitsversorgung, die die KV da machen will, und wo Effizienz und Wirtschaftlichkeit mehr als infrage stehen – und das zu Lasten aller Ärzte. Da wird an einer Ecke gezogen und an drei Ecken wird die Decke noch kürzer!

Wie interpretieren Sie denn diesen KBV-Vorstoß, jetzt plötzlich Eigeneinrichtungen betreiben zu wollen – als Zugeständnis an die Politik?

Das ist eine Folge des Sicherstellungsauftrags der KVen, der ja politisch konstitutiv ist. Die KVen müssen den formal erfüllen, auch wenn am Ende Dumping-Medizin oder struktureller Unsinn – wie KV-Eigeneinrichtungen – dabei heraus kommt. Man denke an die Terminservicestellen: Die Politik will das, und die weisungsgebundene Körperschaft muss spuren. Das Ergebnis ist Planwirtschaft, was allerdings innerhalb der KVen insgesamt zu wenig kritisiert wird, weil sich viele dort nicht mit den Ministerien und der Politik anlegen wollen.

Wir werden deshalb auch darüber zu sprechen haben, wo denn „Freiheit für die ärztliche Selbstverwaltung“ überhaupt noch Raum haben kann, oder ob man seitens KBV und KVen da nicht bewusst Illusionen am Leben hält.

In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe das nächste Gesetz plant, um die Selbstverwaltung stärker an die Kette zu legen. Inwieweit ist das KV-System eigentlich mitverantwortlich für die zunehmende staatliche Überregulierung? Stichwort: Immobilien- und Ruhegeld-Affäre der KBV, die Anlass für den jüngsten Gröhe-Vorstoß gewesen sein sollen.

Das ist für mich ein Scheinargument, das für Herrn Gröhe allerdings sehr gelegen kommt.

Inwiefern?

Die Versäumnisse und Fehler, die die KBV unter ihrem Ex-Vorsitzenden Dr. Andreas Köhler gemacht hat und die nicht zu entschuldigen sind, werden von der Politik vordergründig herangezogen, um noch weiter zu reglementieren und zu kontrollieren. Im Grunde genommen aber richtet sich die Gesundheitspolitik seit nunmehr 20 Jahren mit ihren Gesetzen gegen echte ärztliche Selbstverwaltung und schränkt diese immer weiter ein. Ganz im Sinne der Thesen des Herrn Noweski.

Warum?

Weil man die freien Arztpraxen beschneiden will in ihren Handlungsmöglichkeiten und in ihrer Bedeutung als Garanten unabhängiger ärztlicher Behandlung. Ursprünglich war man unter Ulla Schmidt mehr ideologisch auf die Abschaffung der niedergelassenen Fachärzte fokussiert, inzwischen richten sich die komplexen Eingriffe gegen Haus- und Facharztpraxen. Das Ganze seit Jahren mit betrieben durch das starke Interesse der Gesundheitswirtschaft, freie Praxen zu dezimieren und die ambulante Versorgung zu assimilieren – zugunsten von Krankenhausstrukturen.

Der „Markt“ der ambulanten Medizin verspricht privaten Investoren lukrative Renditen – die geben sich nicht mit EBM-Punkten zufrieden. Und: Der ambulante Bereich soll als Ansaugstutzen für die Bettenauslastung im stationären Bereich dienen.

Das klingt nach einem ziemlich düsteren Szenario. Was müsste passieren, um die Position der Niedergelassenen zu stärken?

Wir werden KBV-Chef Gassen schon fragen, was er denn zu tun gedenkt, um die Rahmenbedingungen für niedergelassene, freiberufliche Ärzte und für die wohnortnahe haus- und fachärztliche Versorgung zu verbessern. Und da ist es sicher nicht damit getan, zu fordern, dass die KVen „irgendwie“ mehr Freiheiten bekommen sollen. Damit die KVen tatsächlich wieder Selbstverwaltungen werden, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen im SGB V grundlegend geändert werden. Da braucht es einen Richtungswechsel: weg von der Begünstigung klinikambulanter Strukturen, hin zu freiberuflichen Arztpraxen. Nicht nur Milliarden jährlich für die Kliniken, sondern anständige Honorare für die Praxen, damit gute Medizin wieder möglich und Ärzte dann auch beruflich wieder zufrieden werden.

Nur so lässt sich der fortschreitende Ärzte- und Behandlungsmangel in der ambulanten Medizin beheben. Nur so bleibt das Gesundheitssystem im Übrigen auch bezahlbar, weil nur so das Prinzip „ambulant vor stationär“ tatsächlich realisiert werden kann. Darauf muss die KBV mit Vehemenz hinweisen – und andernfalls erklären, dass der Sicherstellungsauftrag nicht gewähleistet werden kann.

Herr Dietrich, ein weiteres Thema, das die Ärzteschaft bewegt, ist die Reform der Gebührenordnung. Hier will die Bundesärztekammer in den kommenden Tagen nun wohl doch noch Einblick in die Verhandlungsergebnisse gewähren. Was erwarten Sie?

Da erwarte ich wieder keine ausreichende Information. Denn das würde ja bedeuten, dass alle Legendierungen und alle Leistungsbezeichnungen mit ihrer Bewertung auf dem Tisch liegen. Und der Budgetkorridor für die nächsten drei Jahre. Ärzte und Verbände sind von der Bundesärztekammer in den vergangenen Monaten systematisch hingehalten worden. Die BÄK hat seit dem außerordentlichen Ärztetag im Januar praktisch nichts auf den Tisch gelegt, sodass ich auch nicht damit rechne, dass sie jetzt plötzlich das komplette Regelwerk veröffentlicht.

Vor dem Verwaltungsgericht Berlin läuft eine Klage gegen die BÄK und gegen Beschlüsse des Sonderärztetags im Januar. Ist die Reform dadurch noch zu verhindern?

Das ist zweifelhaft. Aber – und das begrüße ich – es entsteht erheblicher Druck auf die Bundesärztekammer. Herr Montgomery muss sich schon fragen, ob er die GOÄneu unter diesen Umständen so durchsetzen will. Denn er kommt unter erheblichen Legitimations- und Offenbarungsdruck durch diesen Prozess, der ja einmalig ist in der deutschen Gesundheits- und Kammerpolitik. Die Bundesärztekammer vertritt nicht mehr die Ärzte – das ist der Eindruck im öffentlichen Raum. Damit schaden sich BÄK und Kammern am Ende selbst.

Und da werden dann auch die Interessenkonflikte – Stichwort Beiratsfunktion bei privaten Versicherungskonzernen – auf den Tisch kommen und diskutiert werden müssen. Da wird es spannend sein zu sehen, ob die BÄK und Herr Montgomery die GOÄneu wirklich weiter so vertreten wollen, eine weitere Beschädigung der Bundesärztekammer und auch deren Ämter in Kauf nehmend.

Übrigens werden wir auf unserem Kongress auch diskutieren, inwieweit es verfassungsrechtliche Bedenken gegen die geplante GOÄneu geben kann. Wir bekämen da durch die Änderung der Bundesärzteordnung mit dem Paragraphenteil nämlich eine andere Normgebung, die weitgehender in die Freiheit der Berufsausübung des einzelnen Arztes eingreift.

Inwiefern?

Der Freiberufler ist an die Gebührenordnung gebunden, Kliniken sind es aber nicht. Das war zwar bisher auch schon so, würde aber dadurch verschärft, dass man Freiberuflern die Möglichkeit nimmt, eigene Steigerungsfaktoren zu definieren. Er würde also deutlich stärker benachteiligt gegenüber Krankenhäusern und anderen Gesellschaftsformen. Und da wäre zu prüfen, ob dies nicht ein Verstoß gegen Artikel 3 oder 12 des Grundgesetzes ist und damit verfassungsrechtlich bedenklich wäre.

Sie kritisieren, dass die neue GOÄ die Interessen privater Versicherungskonzerne bediene. Viele Ärzte halten eine Reform aber für überfällig. Wie sieht das Alternativkonzept der Freien Ärzteschaft zur GOÄ aus?

Wir haben überhaupt keine Einwände gegen eine Aktualisierung des Leistungsverzeichnisses sowie eine Aufwertung des Punktwertes. Das könnte man problemlos unter Beibehaltung der aktuellen GOÄ machen. Dann wäre nur über den Punktwert, die Höhe des Honorars und über Analogziffern für neue Leistungen zu verhandeln. Und ich bin der Meinung, dass die bisherigen Ärztetage genau diesen Auftrag an die BÄK gegeben haben: das Leistungsverzeichnis zu modernisieren und die Honorare zwecks Inflationsausgleich anzuheben.

Das heißt im Umkehrschluss, dass sich die Verhandlungsführer der BÄK von den privaten Versicherungskonzernen haben über den Tisch zu lassen? Oder wie würden Sie das bewerten?

Es war ein fataler Fehler der BÄK, auf die Forderung des damaligen Bundesgesundheitsminister Philip Rösler einzugehen, sich mit der PKV zu „einigen“. Das hätte sie ablehnen müssen. Die BÄK hätte von ihrem Recht Gebrauch machen müssen, eine eigene, modernisierte Gebührenordnung vorzulegen. Von mir aus wieder und wieder, mit Druck auf die Politik und notfalls unter Ausschöpfung des Rechtswegs. Angesichts des jetzigen Verfahrens und der unfassbaren Besetzung und Aufgaben der Gemeinsamen Kommission sehen wir es in der Tat so, dass die BÄK sich von der PKV hat über den Tisch ziehen lassen.

Zum Start der elektronischen Gesundheitskarte im Sommer sollen die Niedergelassenen in ihren Praxen für die Krankenkassen online die Stammdaten ihrer Patienten abgleichen. So sieht es das E-Health-Gesetz vor. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „Fiktion“ und „Überwachungsmedizin“. Warum?

Wenn die Arztpraxen an die Telematikinfrastruktur der Gematik angebunden werden – vordergründig, um das Versichertenstammdaten-Management zu erledigen – dann sehen wir das als weiteren Schritt in die Überwachungsmedizin – für Arzt und Patient. Denn alsbald könnten die Krankenkassen künftig online kontrollieren, welcher Patient wann in welcher Praxis war. Das sind bereits sensible Daten, die da generiert werden. Weiter gehen würde das womöglich mit der Online-Kontrolle des Arztes und seiner Verordnungen. Das Problem des Datenklaus, der Manipulation oder Beschädigung von Daten und EDV-Systemen – Stichwort Hacking – sind da noch gar nicht erwähnt.

Was raten Sie ihren Mitgliedern, die sich dem Online-Datenabgleich verweigern wollen?

Die Freie Ärzteschaft prüft aktuell Rechtswege gegen die Telematikinfrastruktur und gegen die Verpflichtung von Ärzten und Patienten, daran teilnehmen zu müssen. Und diese Rechtswege werden auch absehbar beschritten. Denn zum einen sehen wir den Datenschutz nicht gewährleistet, zum anderen werden die Schweigepflicht des Arztes und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Patienten ausgehebelt. Nach den jüngsten Hackerattacken auf Kliniken sollte es jedem einleuchten, dass die Anbindung medizinischer Informationssysteme an das Internet höchst kritisch ist – und wenn möglich vermieden werden sollte.

Warum sollte die Digitalisierung ausgerechnet vor Arztpraxen und Krankenhäusern Halt machen?

Die sollte da gar nicht Halt machen. Innerhalb der Arztpraxis oder des Krankenhauses ist Digitalisierung doch längst Realität. Und digitaler Datenaustausch zwischen Praxen und Kliniken ist ja durchaus vertretbar. Aber dieser Datenaustausch – und nur darum geht es doch – erfordert keine zentrale Vernetzung, sondern dafür reicht eine dezentrale Punkt-zu-Punkt-Kommunikation. Und jede Preisgabe von Gesundheitsdaten seitens des Patienten muss wirklich freiwillig sein, und auch nicht nur implizit erzwungen. Das E-Health-Gesetz aber nimmt darauf keine Rücksicht, da wird faktischer Zwang ausgeübt. Und genau das widerspricht meiner Meinung nach dem Grundsetz, da es das Recht auf informationelle Selbstbestimmung missachtet.

Nichts also gegen Digitalisierung, sondern gegen gefährliche Zwangsvernetzung. Wir haben jüngst gesehen, wozu eine solche Vernetzung am Ende führt: Krankenhäuser werden durch Hackerangriffe tagelang lahm gelegt, Behandlungen fallen aus oder werden verschoben, es entstehen erhebliche Kosten. Dazu kommen jedes Jahr millionenfache Diebstähle von Gesundheitsdaten weltweit. Arzt und Krankenhaus sollten zumindest selbst entscheiden können, ob sie sich an ein solches System anschließen wollen oder nicht.

Und der Patient gehört über damit verbundene Strukturen, Prozesse und Risiken informiert, um sich auch anhand dessen für oder gegen einen Behandler zu entscheiden. Das wäre bürgerorientierter Wettbewerb um Datenschutz, so wie es den inzwischen auch unter Internet-Providern gibt, die man fragt, ob sie Daten über die USA leiten und der Bürger damit gläsern für US-amerikanische Überwachungsbehörden wird.

Quelle: änd 14.03.2016, Interview: Marco Münster

Kongress Freier Ärzte

Am Samstag, den 16. April 2016, diskutiert die Freie Ärzteschaft in Berlin auf Kongress Freier Ärzte unter anderem mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Prof. Udo di Fabio, KBV-Chef Dr. Andreas Gassen und Prof. Paul U. Unschuld, Direktor des Horst-Görz-Stiftungsinistuts an der Berliner Charité, über die Zukunft der ambulanten Medizin in Deutschland.

Alle Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier.