Spahns Patientendaten-Schutzgesetz schützt weder die Patientendaten noch die Medizinqualität

FÄ-Vize Dr. Silke Lüder

„Der Gesetzgeber maßt sich an, völlig praxisferne und unsichere Regelungen zu treffen, die tief in die Abläufe in den Arztpraxen eingreifen, noch mehr Bürokratie schaffen und von denen weder Ärzte noch Patienten profitieren. Im Gegenteil, das Ganze schadet der medizinischen Versorgung extrem.“ So bewertet Dr. Silke Lüder, Vizevorsitzende der Freien Ärzteschaft, zusammenfassend das geplante Patientendatenschutzgesetz. Was genau bedeuten die hochkomplexen Anwendungen für Praxen und Kliniken?  

Von Dr. Silke Lüder

Die Digitalisierung von Daten im Gesundheitswesen ist entgegen vieler anderslautender Behauptungen weit vorangeschritten. Nahezu alle Arztpraxen und Kliniken arbeiten mit digitalen Geräten und Akten. Auch ohne staatlichen Zwang hat sich das moderne Arbeiten zum Nutzen des Workflows und der Effizienz von Praxen und Kliniken durchgesetzt – immer orientiert am Nutzen für die Patientenbehandlung.

Ohne diese Prämisse zu beachten und eher auf Druck der IT-Industrie kommen aus dem Bundesgesundheitsministerium monatlich neue Gesetze. Alle haben etwas mit Digitalisierung zu tun und werden die Medizin in Deutschland verschlechtern, weil die neuen Vorgaben die Funktionalität und den Workflow in Praxen und Kliniken massiv belasten werden. Während der Corona-Krise werden im Eilverfahren neue Gesetze durchgepeitscht, bei denen der konkrete Patientennutzen, die Anwenderfreundlichkeit und die Gewährung der informationellen Selbstbestimmung hinten herunterfallen. Schon im Digitale-Versorgung-Gesetz (April 2020) wurde darauf verzichtet, die künftigen Gesundheits-Apps vor Einführung unabhängig daraufhin zu prüfen, ob sie einen medizinischen Nutzen bringen. Im Vordergund stand eher, der IT-Industrie schnell Absatzchancen zu ermöglichen.

Mangelnder Datenschutz massiv in der Kritik

Zu Recht kritisieren der Bundesdatenschützer, die Ärzteschaft, die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag, der Chaos Computer Club und weitere Experten massiv das geplante Patientendaten-Schutzgesetz (Drucksache 19/18793). Es widerspreche an vielen Punkten der Datenschutzgrundverordnung und damit geltendem Recht. Der Zugriff auf die geplante elektronische Patientenakte (ePA) geschehe ohne zuverlässige Prüfung der Indentität von Personen, die auf die Daten zugreifen wollten, monieren die Kritiker. Statt die bekannten Mängel bei der bisherigen Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarten abzustellen, werden sie gesetzlich fixiert. Ohne sichere Identitätsprüfungen entsprechen die Gesetzesformulierungen zu elektronischen Einwilligungen nicht den datenschutzrechtlichen Vorschriften. Es ist also nicht gesichert, dass wirklich nur Berechtigte auf die sensiblen Daten der ePA zugreifen würden.

Den Krankenkassen wird dem Gesetzentwurf zufolge ermöglicht, bei den Versicherten eine Erlaubnis dafür einzuholen, ihre gesamten sensiblen Krankheitsdaten aus der ePA zu verarbeiten zum Beispiel im Tausch gegen das „Angebot zusätzlicher Dienste“. Bisher unterliegen diese Daten der ärztlichen Schweigepflicht und dürfen nur vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen anlassbezogen nach Anforderung eingesehen werden. Künftig muss davon ausgegangen werden, dass Patienten in bestimmten Situationen, zum Beispiel wenn sie Krankengeld beziehen, aufgefordert werden, ihre Daten vollständig freizuschalten. Gläserne Ärzte und Patienten sind die Folge.

Völlig ausgeblendet: Unpraktikable Anwendungen für Praxen und Kliniken

Aus der Sicht von Praxisärzten gibt es an dem ganzen Gesetzeskonstrukt jedoch noch wesentliche weitere Kritikpunkte. Augenscheinlich überhaupt nicht beachtet werden die realen Abläufe in den Praxen und Kliniken. Die geplanten hochkomplexen digitalen Anwendungen behindern massiv den Workflow. Eingeführt werden sollen neben der ePA das elektronische Rezept, die elektronische Überweisung, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der elektronische Notfalldatensatz. Ärztinnen und Ärzte, die bis Mitte 2021 nicht mit der ePA arbeiten, werden dann mit weiteren Strafzahlungen zur Kasse gebeten.

e-Rezept: Überprüfung der Verordnung nicht möglich

Das Papierrezept ist hinsichtlich Funktionalität und Versorgungssicherheit ein Erfolgsmodell. Patienten können selbst am besten überprüfen, was ihnen verordnet wurde. Missverständnisse lassen sich noch in der Arztpraxis klären und die Patienten können sich in der Apotheke ihrer Wahl ihre Medikamente besorgen, sind diese nicht lieferbar auch in unterschiedlichen Apotheken. Beim e-Rezept hingegen bekommt der Versicherte entweder einen Zugangscode auf sein Handy oder einen sogenannten Token wieder auf Papier. Sämtliche Informationen werden auf zentralen Servern gespeichert. Der Patient kann also nicht mehr nachprüfen, was der Arzt tatsächlich verordnet hat, und Missverständnisse werden erst in der Apotheke sichtbar.

e-Überweisung und e-AU-Bescheinigung: Praxisferne Planung

Im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Terminvergabe durch externe Terminservicestellen erzwungen. Wie soll eine elektronische Überweisung beispielsweise aus der Hausarztpraxis in eine noch nicht bekannte Facharztpraxis realisiert werden? Eine praxisfernere Planung gibt es kaum.

Die elektronische, über die Telematikinfrastruktur an die Krankenkassen geleitete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bedeutet Doppelarbeit vor allem für die Hausärzte. Denn die Bescheinigung soll für den Patienten zusätzlich auf Papier ausgestellt werden. Statt Bürokratieabbau erfahren die Praxisärzte dadurch bürokratische Mehrbelastung.

e-Notfalldatensatz: 530 Euro für ein Update

Geradezu irrwitzige Wege geht die Einführung des elektronischen Notfalldatensatzes. Das erstmalige Anlegen des elektronischen Notfalldatensatzes kostete in den bisherigen Tests 20 bis 30 Minuten ärztliche Arbeitszeit. Welcher Arzt hat die Zeit dafür übrig? Bei jeder Änderung eines notfallrelevanten Medikamentes, wie zum Beispiel eines Gerinnungshemmers, müssen die Informationen dann fünffach aktualisiert werden: im Marcumar-Ausweis, im bundeseinheitlichen Medikationsplan, im Notfalldatensatz, im e-Rezept und in der e-PA.

Für die Einrichtung der technischen Möglichkeit (mittels Online-Update des Konnektors) für das Anlegen eines Notfalldatensatzes soll die Praxis einmalig 530 Euro bekommen. Für das tatsächliche Anlegen des Notfalldatensatzes inklusive Aufklärung, Einwilligung, Dokumentation bekommt die Praxis dann 8,79 Euro. Alle Kunden des IT-Marktführers für Arztpraxen bekommen aktuell eine Aufforderung zugeschickt, dass im Mai 2020 ein verpflichtendes Online-Update für den aufgezwungenen Konnektor aufzuspielen sei. Die Praxis könne dann danach Notfalldatensätze erstellen. Irgendwelche positiven Testergebnisse für die Funktionalität des Notfalldatensatzes sind bisher nicht bekannt. Erstaunlicherweise kostet aber das Notfalldatensatz-Update für die Praxis auch genau 530 Euro. Hier werden offenbar geplant hohe Profite für IT-Unternehmen kreiert. Normal sind diese Mondpreise nicht.

ePA: Unvollständig, unzuverlässig und unbrauchbar

Die geplante elektronische Patientenakte, auf die man nur mit einer Handy-App zugreifen kann, soll von Privatfirmen entwickelt und ab 1.1.2021 von den Krankenkassen in jeweils unterschiedlicher Version zur Verfügung gestellt werden. Im Unterschied zu früheren Planungen geht es nur noch um eine patientengeführte Akte, die aber von Ärzten befüllt werden muss. Da die Versicherten selbst Dokumente einstellen oder löschen können, ist die Akte unvollständig, aus medizinischer Sicht unzuverlässig und juristisch betrachtet für Ärzte unbrauchbar. Man muss davon ausgehen, dass die mit Zwang und Strafzahlungen genötigten Ärztinnen und Ärzte schon aufgrund mangelnder Überzeugung und Zeit nicht bereit sein werden, mit dieser unzuverlässigen Sammlung von PDF-Dokumenten ihre Arbeitszeit zu verschwenden. Daran ändern auch die einmalig gezahlten 10 Euro für die ärztliche Erstbefüllung einer ePA nichts.

Zudem werden ältere Menschen ohne Handy, Menschen mit geringen Sprachkenntnissen oder mit Handicaps bei den elektronischen Anwendungen eindeutig diskriminiert. Wo bleiben die Menschen, die die äußerst komplizierten Anweisungen der „Dokumentenverwaltung“ mit unterschiedlichsten Zeitbefristungen der Zugriffsrechte für diesen oder jenen Arzt nicht realisieren können? Oder wie soll man in Gegenden damit arbeiten, die kein schnelles Internet haben? Viele Menschen vertrauen lieber auch weiterhin ihren Haus- und Fachärzten, die in der Regel eine ziemlich vollständige Sammlung ihrer Krankheitsbefunde unter ihrer Schweigepflicht verwalten. Vertrauen scheint aber im Berliner Ministerium keine Kategorie zu sein, mit der man arbeiten kann. Stattdessen schaut man lieber auf die engverbandelten Lobbyisten, die die Daten als Gold des neuen Jahrtausends dringend angefordert haben.

Wissenschaftliche Forschung oder Ressourcenplanung und Steuerung?

Als Fortsetzung der Festlegungen im Digitale-Versorgung-Gesetz sieht auch der neue Gesetzentwurf vor, dass laut § 363 SGB V die Daten aus der ePA an das neue „Forschungsdatenzentrum“ übermittelt werden können, nachdem der Versicherte pauschal eingewilligt hat. Dabei wird suggeriert, es handele sich um „Forschungszwecke“. Diese beinhalten aber durchaus nicht nur die „wissenschaftliche Forschung“ im Sinne eines „broad consent“ nach ERWGR 33 DSGVO. Vielmehr würden die Inhalte der ePA einem großen Kreis von Institutionen zugänglich gemacht, bei denen es nicht um Wissenschaft, sondern um etwa Versorgungsqualität, Planungen von Leistungsressourcen und Gesundheitsberichtserstattung geht. Diese Institutionen können sich überwiegend nicht auf die verfassungsrechtlich verbriefte Wissenschaftsfreiheit berufen. Hier von den Versicherten mit einer pauschalen Einwilligung einen Persilschein zu erbitten, entspreche nicht den Anforderungen einer „informierten Einwilligung“, wie auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf vom 3.4.2020 formuliert hat.

Fazit: Praxisferne und unsichere Regelungen

Insgesamt ist festzustellen, dass sich der Gesetzgeber anmaßt, völlig praxisferne und unsichere Regelungen zu treffen, die tief in die Abläufe in den Arztpraxen eingreifen, noch mehr Bürokratie schaffen und von denen weder Ärzte noch Patienten profitieren. Im Gegenteil, das Ganze schadet der medizinischen Versorgung extrem.

31. Mai 2020