„Uns läuft die Zeit davon!“

Hamburgs KV-Vorsitzender Walter Plassmann warnt angesichts zunehmender Übernahmen von Arztpraxen durch private Investoren vor gravierenden Veränderungen in der ambulanten Versorgung. Immerhin sei das Thema inzwischen in der Politik angekommen, sagte Plassmann am Samstag auf dem „Kongress Freier Ärzte“ in Berlin.

Wird es künftig noch Arztpraxen in den Händen niedergelassener Ärzte geben, oder werden Praxen zunehmend aufgekauft und in Medizinische Versorgungszentren (MVZ) umgewandelt? Und wenn ja, wer sind die Investoren? Für Walter Plassmann, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, ist klar, wohin die Reise gehen kann, wenn sich am momentanen Trend nichts ändert: „Die Qualität der Medizin wird massiv bedroht werden.“ Bereits jetzt seien in der Hansestadt 30 Prozent der niedergelassenen Ärzte angestellt, in immer mehr Fachrichtungen gebe es keine Zulassungen mehr, immer öfter übernähmen MVZ die Arztsitze.

Die Nachteile liegen für Plassmann auf der Hand. Zum einen hätten in MVZ angestellte Ärzte deutliche geringere Versorgungskapazitäten, zum anderen würde durch Skaleneffekte das Leistungsspektrum eingeschränkt. Hinzu komme ein undurchsichtiges Über- und Einweisungsgeschehen in die Kliniken Und: die Zentralisierung der Praxen verschlechtere die Versorgung vor allem in den ländlichen Regionen.

Ein neuer Trend seien die „weißen Rittern“, die im guten Gewand daherkämen und Kapital aus Familien-Vermögen investierten. In Hamburg seien dies die Verlegerfamilie Bauer und die Familie Herz, die mit dem Unternehmen Tchibo verbunden ist. Interessante Felder für Privatkapital sind demnach die Labormedizin, die Nephrologie, die Radiologie, die Onkologie, die Augenheilkunde und die Kardiologie. Man müsse im Gesundheitsmarkt allerdings zwischen Strategischen Investoren wie Asklepios oder Helios, und Finanzinvestoren unterscheiden, sagte Plassmann beim Kongress der Freien Ärzteschaft am Samstag in Berlin.

Während erstere ein langfristiges Engagement verfolgten, das man nicht per se verteufeln dürfe, engagierten sich Finanzinvestoren erfahrungsgemäß nur, solange ihre Renditeerwartung bedient werde. Ein treffendes Zitat dazu stamme von Ronald Grott, Mitglied der Geschäftsleitung der Nord Holding Unternehmensbeteiligungsgesellschaft. Er habe im Dezember 2020 gesagt: „Es gibt Menschen, die handeln mit schönen Autos. Sie tunen sie, verbessern sie und verkaufen sie dann weiter. Wir bei Nord Holding machen im Grunde dasselbe mit mittelständischen Unternehmen.“

Plassmann sagte aber auch: „Viele Arztpraxen sind schwer verkäuflich, etwa weil sie zu groß sind. Denen bleibt gar nichts anderes übrig, als an ein MVZ zu verkaufen.“ Die KV Hamburg habe daraus den Schluss gezogen, in den Markt „einzugreifen“, allerdings seien Eigeneinrichtungen der KVen nur ein Notnagel, weil sie zulassungsrechtlich bisher keinen Status haben. Zudem habe die KVHH über die Gesundheitsministerkonferenz eine entsprechende Gesetzesänderung angeregt. Nun hoffe man, dass das Thema bei den Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielt. Problematisch sei, „dass wir eine strukturpolitische Debatte führen, es aber keine ,smoking gun‘ gibt und die Private Equity ausgezeichnete Lobby-Arbeit leistet“, sagte Plassmann und mahnte: „Uns läuft die Zeit davon. Was wir schnellstmöglich brauchen, ist ein Moratorium, um zu diskutieren und Hintergründe zu erklären“. Sonst komme man schneller als gedacht an einen Kipp-Punkt. „Wenn der einmal überschritten ist, ist Entwicklung nicht mehr umkehrbar“. Die Politik stecke ihrerseits in einem Dilemma, vor allem die FDP sitze zwischen Baum und Borke. „Einerseits steht sie für den Erhalt der Freiberuflichkeit, andererseits hat sie nichts gegen private Finanzinvestoren“, sagte Plassmann.

Wieland Dietrich, Dermatologe aus Essen und Vorsitzender der Freien Ärzteschaft (FÄ), sieht die Schuld an der Entwicklung auch bei den Kassenärztlichen Vereinigungen, sie hätten es zu lange laufen lassen. „Mit Verlaub muss man sagen, dass die vertragsärztliche Tätigkeit in den vergangenen Jahren immer unattraktiver geworden ist“, so Dietrich. Mehr Honorar und ein Abbau der Bürokratie seien vonnöten, um das zu ändern. FÄ-Vize Dr. Silke Lüder, Allgemeinärztin aus Hamburg, fordert ein Transparenzregister, „damit klar ist, wem was überhaupt gehört“. Eine entsprechende Forderung müsse die Ärzteschaft zusammen mit den Berufsverbänden an die Politik stellen. Plassmann wies Dietrichs Kritik in Teilen zurück. Nach wie vor habe Deutschland das beste Gesundheitswesen der Welt, weil es niedrigschwellig und flexibel sei. Durch die zunehmenden Renditebestrebungen verrutsche jedoch das System. „Als KV müssen wir natürlich dafür sorgen, dass die Arbeit in den Praxen attraktiver wird“. Gegen die Entwicklung in Sachen MVZ habe sich die KVHH aber von Anfang an gewehrt, sagte Plassmann und verwies auf eine Presseerklärung seiner KV, als in Hamburg das erste MVZ gegründet worden war. Sie trug den Titel: „Nicht erwünscht“. Gehört worden sei dies von der Politik damals nicht, das ändere sich langsam.

Quelle: änd 21.11.2020, Bericht: Anja Köhler

Über die Freie Ärzteschaft e.V.

Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Vorsitzender des Bundesverbandes ist Wieland Dietrich, Dermatologe in Essen. Ziel der FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt.

V .i. S. d. P.: Wieland Dietrich, Freie Ärzteschaft e.V., Vorsitzender, Gervinusstraße 10, 45144 Essen, Tel.: 0201 68586090, E-Mail: mail@freie-aerzteschaft.de, www.freie-aerzteschaft.de

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