Freie Ärzteschaft: „Zero Trust“ führt zu digitalem Burnout bei Praxisärzten

Krise als Treiber für die Digitalisierung nutzen – so schallt es aus allen Kanälen von Politik, Krankenkassen und Industrie. Auch die Bundesärztekammer überschreibt so einen Teil ihres Leitantrags für den am Dienstag beginnenden 124. Deutschen Ärztetag. Die Freie Ärzteschaft (FÄ) schaut genau in die Praxis und kritisiert: „Die Haus- und Facharztpraxen sind mit der Bewältigung der Corona-Pandemie sowie der Verlagerung der Impfkampagne aus den Impfzentren in die Praxen bereits massiv belastet“, sagte FÄ-Vize Dr. Silke Lüder am Montag in Hamburg. „Trotzdem plant das Bundesministerium für Gesundheit eine 180-Grad-Wendung des Telematik-Projekts hin zu ausschließlich softwarebasierten Anwendungen mit der komplizierten Sicherheitsarchitektur ‚Zero Trust‘. Vielen Ärzten droht ein digitales Burnout – wir fordern ein sofortiges Moratorium für dieses staatliche Vernetzungsprojekt.“

Bisher gebe es nicht die geringste Evidenz dafür, dass die Umstellungen des bisherigen Praxis-Workflows auf elektronische Rezepte, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (eAU) oder Patientenakten (ePA) in der geplanten Form irgendeinen Fortschritt für Patienten und Ärzte bringen würde, erläutert die Hamburger Allgemeinärztin. „Ganz im Gegenteil erleben die Praxen häufig Ausfälle der zentralen Infrastruktur.“

Einem internen Papier zufolge plant die Gematik als Einführungsorganisation der Telematikinfrastruktur (TI) mit „Zero Trust“, also „Null Vertrauen“, dass Patienten, Ärzte und Apotheker bei jedem Zugriff auf die Daten in der TI ihre Identität neu bestätigen müssen. Lüder betont: „Die Gematik droht so, zu einer umfassenden Kontrollbehörde zu werden.“ Selbst der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen kritisiert sowohl die Planungen für das eRezept und die ePA als auch die neue Rolle der Gematik: Als staatliche Unterbehörde grenze sie die wesentlichen Player im System wie Ärzte und Krankenkassen aus. Außerdem seien die vom Gesetzgeber geplanten Fristen zur Einführung in die Praxis nicht haltbar. Davon geht auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung aus. Ebenso bleibt der Bundesdatenschutzbeauftragte Professor Ulrich Kelber bei seiner Einschätzung, dass die geplante ePA gegen die Datenschutzgrundverordnung verstößt.

FÄ-Vize Silke Lüder erläutert, was das Digitalisierungsvorhaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn derzeit für die Ärztinnen und Ärzte bedeutet: „Die Praxen werden wöchentlich mit Aufforderungen zur Implementierung neuer technischer Voraussetzungen für eRezept, ePA, eNotfalldatensatz, eMedikationsplan, eAU und eKommunikation (KIM) regelrecht bombardiert. Für die Praxen entsteht dadurch starker zusätzlicher Druck.“ Vor allem in den Hausarztpraxen führe das aktuell zu einer Art digitalen Burnouts.

Denn über Mangel an Aufgaben können sich die Praxen derzeit wahrlich nicht beklagen: Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Mitarbeitenden müssen den großen Patientenandrang am Telefon sowie in der Sprechstunde bewältigen, mehr als 90 Prozent aller Covid-Kranken und alle anderen Kranken behandeln und darüber hinaus zunehmend die Corona-Impfungen der Bevölkerung stemmen. Die FÄ-Vize kritisiert: „Statt die Praxen zu unterstützen, werden sie zum einen im Gegensatz zu den Impfzentren mit lächerlichen Honoraren für die Impfungen abgespeist und zum anderen mit digitalen Anforderungen überschüttet sowie weiteren finanziellen Sanktionen bedroht, falls sie sich nicht an die zentralisierte TI anschließen.“ Unter diesen Bedingungen seien ein sofortiges Moratorium der TI sowie die Rücknahme aller Sanktionsdrohungen zwingend nötig. Nur so könnten die Praxen weiterhin als Schutzwall in der Coronakrise dienen.