Freie Ärzteschaft zum Aufstand der KV-Chefs: Spahns Telematik-Politik hat die Schraube überdreht

„Der, der gehen kann, geht lieber heute als morgen.“ So deutlich haben die Führungen von neun Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in einem offenen Brief an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ihren Unmut über die Ausgestaltung der Telematik-Infrastruktur (TI) formuliert. Die Freie Ärzteschaft (FÄ) unterstützt den Protest. „Vielleicht begreifen die politisch Verantwortlichen irgendwann, dass Verwaltungsmitarbeiter keine Medizin machen können“, sagte Dr. Silke Lüder am Mittwoch in Hamburg. Die FÄ-Vize befürchtet jedoch, dass diese Einsicht zu spät kommen könnte, viele Ärzte ihre Praxen aufgeben und der ambulante „Schutzwall“ bei der nächsten Corona-Welle löchrig werden könnte. „Wir brauchen sofort ein Moratorium für das offensichtlich gescheiterte TI-Projekt. Außerdem fordern wir ein sofortiges Ende aller Sanktionen gegen Praxen, die sich nicht an die zentrale TI angeschlossen haben“.

Am Ende der ersten Corona-Welle in Deutschland gab es Applaus für die Arztpraxen. Selbst Politiker, die jahrelang die totale Transformation der Medizin und die Abschaffung der angeblichen „doppelten Facharztschiene“ gefordert hatten, stellten fest, dass die Haus- und Facharztpraxen Deutschland vor einem Corona-Chaos geschützt hatten. „Gleichzeitig hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Corona-Pandemie jedoch genutzt, um eben dieses schlagkräftige ambulante Gesundheitssystem in unserem Land weiter zu destabilisieren“, moniert FÄ-Vize Dr. Axel Brunngraber. „Der Aufschrei der KV-Vorstände bestätigt nun die Kritik, die wir als kritische Ärzteschaft seit 2004 führen.“

Auch die Arztpraxen würden eine moderne und bessere ärztliche Kommunikation ausdrücklich begrüßen, betont Lüder. „Stattdessen aber zerstört das von Industrie und Krankenkassen betriebene Top-down-TI-Projekt die effizienten Arbeitsstrukturen in den Praxen, macht die Ärzte zu Verwaltungsassistenten der Krankenkassen und schiebt das Geld von Ärzten und den gesetzlich Versicherten in die Taschen der Industrie.“ Ein paar Beispiele: Aufgrund eines TI-Fehlers funktionierten seit Ende Mai 2020 wochenlang viele der „Steinzeit-Konnektoren“ nicht. Die kommende elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verdoppelt den Arbeitsaufwand. Elektronische Patientenakten und Notfalldatensätze sowie e-Rezepte rauben Behandlungszeit und nützen weder den Patienten noch den Ärzten.

„Durchgesetzt werden soll alles mit finanziellen und administrativen Zwangsmaßnahmen“, erläutert Lüder. „Dabei ist Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zu einer leeren Hülle verkommen. Die regionalen KV-Führungen sollen das Ganze gegenüber den Arztpraxen exekutieren, während sich die KBV-Spitze gefälligst an die staatlichen Vorgaben anpassen soll. Anderenfalls droht man der KBV jetzt aktuell mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen.“ Und den Praxisinhabern werde jetzt offen mit Zulassungsentzug gedroht – das quittierten viele inzwischen mit einem müden Lächeln.