Sachverständigenrat Gesundheit mit seinem Gutachten auf Abwegen
Am heutigen Donnerstag stellt der Sachverständigenrat Gesundheit (SVR) sein „Gutachten zur Digitalisierung“ in einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin vor. Die Freie Ärzteschaft (FÄ) kritisiert das Gutachten: „Wir sehen darin einen Paradigmenwechsel in sowohl medizinischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht“, sagte FÄ-Vizevorsitzende Dr. Silke Lüder heute in Hamburg.
Bereits kurz nach der Veröffentlichung des Gutachtens im März 2021 gab es massive Proteste aus der Medizin und von Datenschützern. In einem offenen Brief (Download unter dem Artikel) haben ärztliche und psychotherapeutische Verbände den Sachverständigenrat wegen seiner Äußerungen kritisiert. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber monierte, dass der SVR das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken wolle, um an Forschungsdaten zu kommen.
Lüder erläutert, wie das Gutachten zu lesen ist: Der Sachverständigenrat mache Werbung für das Motto: „Daten teilen heißt besser heilen“. Als Ausgangspunkt seiner Argumentation lege er das übergeordnete Patientenwohl fest. Dieses sei das Wohl „aller aktuellen und zukünftigen Patientinnen und Patienten“. „Damit“, betont die FÄ-Vize, „beschwört der SVR faktisch ein ewiges Patientenkollektiv als obersten Maßstab – eine Definition, die vergangenen Zeiten in unserem Land angehört und aus gutem Grund laut Grundgesetz nicht mehr gilt.“
In einer freiheitlichen Gesellschaft könne niemals das Gesundheitsinteresse des Einzelnen bruchlos dem Interesse des Kollektivs untergeordnet werden. Entsprechend könne auch nicht die informationelle Selbstbestimmung, die seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 den Status eines Grundrechtes genieße, einem Kollektivinteresse untergeordnet werden, nur weil, wie der SVR betone, die medizinischen Leistungen in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen erfolgten. „Der SVR leitet hier implizit mindestens moralisch die Verpflichtung des Einzelnen zur Datenspende ab“, macht Lüder klar. „Folgerichtig fordert der SVR eine zentral gespeicherte ‚elektronische Patientenakte von Geburt an‘. Dieser kann man nur durch aktiven Widerspruch, der sogenannten Opt-out-Lösung, entgehen.“ Der heutige Datenschutz werde medial als „Datenschutz alter Schule“ diffamiert.
Dabei wird in der extra für das Gutachten durchgeführten Versichertenbefragung klar: Die übergroße Mehrheit der Versicherten will weiterhin ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausüben und besteht auf der Freiwilligkeit für die Nutzung einer e-Patientenakte. Die übergroße Mehrheit der Befragten möchte ihre Daten auch für die Forschung nur nach einer erneuten Zustimmung freigeben, bevorzugt also eine Opt-in Lösung.
„Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2008 ist heute aktueller denn je“, sagt Lüder. „Schon 2008 war klar, dass bei der rasanten Entwicklung zentralisierter Datenüberwachung und -verarbeitung das Recht des Einzelnen auf Privatsphäre und Selbstbestimmung leicht unter die Räder kommt.“ Die vielfachen Hackerangriffe auf Gesundheitsdaten wie kürzlich in Irland oder Finnland zeigten, welche Gefahr von zentralisierten Datensammlungen in der Medizin ausgehe. Eigentlich habe der SVR als öffentlich berufenes Gremium die Aufgabe, das Gesundheitswesen positiv weiterzuentwickeln und dabei wesentliche Kernelemente wie ärztliche Schweigepflicht und Patientensouveränität zu schützen. „Es ist beunruhigend“, so die FÄ-Vize, „dass sich der SVR mit seinem Gutachten aber eher als Appendix der E-Health-Apologeten von Industrie und Politik geriert, die Daten als Gold der künftigen Renditeerwirtschaftung betrachten. Dafür sind die Medizindaten aber nicht da.“