FÄ-Kongress in Berlin (III)
Von digitalen Doppelgängern, Datenkraken und Warten auf GodotÄ
Bericht vom Kongress Freier Ärzte 2022 in Berlin
Am 3. Dezember 2022 fand der 10. Kongress Freier Ärzte wie gewohnt in der katholischen Akademie Berlin statt – nach dem Erfolg des letzten Jahres auch diesmal wieder als Hybridveranstaltung.
Die Bedrohung der ärztlichen Unabhängigkeit nehme derzeit zu, sagte Wieland Dietrich, Bundesvorsitzender der Freien Ärzteschaft (FÄ), in seiner Begrüßungsansprache. „Das ehemals beste Gesundheitssystem der Welt geht gerade den Bach herunter“. Neu sei der Masterplan von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. med. Karl Lauterbach, dass Kliniken und Gesundheitskioske auf Kosten der niedergelassenen Ärzteschaft Teile der ambulanten Medizin übernehmen sollen.
Dr. med. Christian Messer, Vorsitzender von MEDI Berlin-Brandenburg, machte in seinem Grußwort auf die drohende Gefahr aufmerksam, dass bei der geplanten zentralen Speicherung von Patientendaten in einer elektronischen Patientenakte (ePA) Hacker und Staatsanwälte zum Beispiel auch Zugriff auf die so genannten F-Diagnosen, also Hinweise auf psychische Störungen, haben.
Dr. med. Silke Lüder, stellvertretende Vorsitzende der FÄ, führte in die Vormittagssitzung ein. Sie wies darauf hin, dass K. Lauterbach einer der Väter der Digitalisierung sei. Inzwischen soll auch der Pharmaindustrie Zugriff auf sensible Patientendaten ermöglicht werden. Leider werde die Digitalisierung in dieser bedenklichen Form auch durch führende Ärztevertreter unterstützt. „Die aktuell geplante zentral gespeicherte elektronische Patientenakte für Kassenpatienten bedeutet de facto die Abschaffung der ärztlichen Schweigepflicht. Das kann niemand wollen“, so S. Lüder.
Digitale Doppelgänger, die sich nicht wieder einfangen lassen
Prof. Dr. med. Reinhard Plassmann, Psychoanalytiker und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus Tübingen, referierte über das Thema „Die zentrale elektronische Patientenakte und die Entstehung digitaler Doppelgänger: Verlust der Kontrolle über die eigene Identität“. Er wies zunächst darauf hin, dass die von Chr. Messer in seinem Grußwort erwähnte Speicherung von Diagnosen psychischer Störungen zum Beispiel auch durch Inanspruchnahme von Hilfe in Belastungssituationen – wie etwa während des Staatsexamens – zu Stande kommen könne und der Betroffene daraufhin ein Leben lang gebrandmarkt sei.
Das gigantische Datenkonvolut, das entstehen werde, lade dazu ein, ein digitales Profil der einzelnen Bürger zu erstellen. Den Menschen würden dabei sogenannte „virtuelle Identitäten“ aufgezwungen. Damit ist gemeint, dass bestimmte Entscheidungen nur noch anhand von gespeicherten Daten gefällt werden, ohne dass Kontakt zum Betroffenen erforderlich ist. Dabei entstehe ein Verlust von Teilen des eigenen Selbst, der nie heile.
Ich gebe zu, dass ich auf diesen Begriff zunächst mit einer hochgezogenen Augenbraue reagiert habe, bis es konkreter wurde: Eine große Gefahr drohe durch Verwechslungen: Personen, die den gleichen Namen und das gleiche Geburtsdatum haben, Zahlendreher oder Namen mit verschiedenen möglichen Schreibweisen können zu Fehlern führen, ohne dass der Betroffene dies zunächst erfährt. Die fehlgeleiteten Dokumente können vor der Korrektur bereits in andere Systeme übernommen worden sein und sich von dort aus verbreitet haben. Solche unvermeidbaren Datenfehler können katastrophale Folgen haben, beispielsweise dann, wenn ein psychiatrischer Entlassungsbericht eines namensgleichen Patienten versehentlich in der falschen ePA gespeichert wurde.
Ein komplexes Datensystem zu ordnen, sei ohne aktive „Handarbeit“ nicht möglich. Das geschehe zum Beispiel bei Steuerdaten oder Grundbuchdaten. Bei der elektronischen Patientenakte sei das systematische Ordnen aufgrund der Komplexität gar nicht möglich. Die Auffindbarkeit einzelner Datensätze bleibe ein Problem. Die Präzision und Schnelligkeit, die in der Medizin erforderlich sind, könne die elektronische Patientenakte nicht leisten. Theoretisch habe der Bürger das Kontrollrecht über seine Daten. Dafür könne es gute Gründe, wie die Entfernung falscher Informationen, geben – aber auch schlechte Gründe, wie zum Beispiel die Verschleierung eines Alkoholismus. Dies kann zu Fehlentscheidungen in Diagnostik und Therapie führen. Theoretisch könnte der Bürger fein granulierte Rechte vergeben, praktisch seien aber nur pauschale Zustimmungen oder Ablehnungen möglich.
R. Plassmann stellte die Frage, wem die gesammelten Daten nutzen, wenn es unmöglich sei, einen Datensatz in der elektronischen Patientenakte (ePA) so
aufzubereiten, dass ein medizinischer Nutzen entstehe. Wenn die ePA nutzbar sein solle, werde als Nebeneffekt leider auch „Schnüffeln“ in der ePA ermöglicht. Eigentlich müsse man die elektronische Patientenakte in „öffentliche Patientenakte“ umbenennen, so R. Plassmann. „Man stelle sich vor, wie es wäre, wenn Wertpapierdepots für öffentliche Zugriffe zugänglich wären.“ Anstelle der geplanten ePA mit zentraler Datenspeicherung würde R. Plassmann eine private Patientenakte sinnvoll finden.
»Datenkraken« sollten klein und beherrschbar bleiben
Systeme, in denen Identitäten festgestellt werden, habe es schon immer gegeben. Solange nur Invarianten, also unveränderliche Merkmale, gespeichert würden, gebe es wenig Probleme. Zum Beispiel enthalte der Personalausweis vorwiegend solche Invarianten. Der Personalausweis lege auch fest, wer man sei. Dabei entstehe ein sogenannter digitaler Doppelgänger, dessen Merkmale über den Umgang mit dem realen Menschen entscheiden können, beispielsweise ob er in ein anderes Land einreisen darf oder nicht. Dieser digitale Doppelgänger könne sich aber auch von der Person loslösen. Sobald veränderliche Eigenschaften, sogenannte Varianten, ins Spiel kommen, werde die digitale Identität problematisch. Den Extremfall zeige der Blick nach China, wo sogar das Wohlverhalten gespeichert und eine Anpassung des Bürgers erwartet werde. Leider habe die ePA das Potenzial, solche digitalen Doppelgänger zu erzeugen. Die ePA enthalte vorwiegend Variablen, keine Invarianten. Zunächst werden durchsuchbare PDFs in die ePA geladen. Eine Fehlinterpretation von Suchergebnissen sei durchaus möglich und eine maschinelle Datenauswertung könne zu Verzerrungen führen. Durch die leichte Kopierbarkeit digitaler Daten seien einmal geschaffene Doppelgänger nicht wieder einzufangen – was für ein schönes Bild für einen schrecklichen Vorgang. Und als ebenso schönes Fazit: „Kraken, die sich die Identität des Menschen einverleiben wollen, sollten deswegen klein und beherrschbar bleiben!“
»Es kann gleichzeitig ein Zuviel und ein Zuwenig an Sicherheit geben«.
Für den Vortrag „Telematikinfrastruktur und Informationssicherheit – Realität oder Fiktion?“ konnten die Sachverständigen für IT- und Datensicherheit, Martin Tschirsich und Dr. Andre Zilch, nur digital zugeschaltet werden. Beide beleuchteten das Thema der digitalen Identität hinsichtlich der Informationssicherheit. M. Tschirsich stellte zunächst klar, was es bei den Daten zu schützen gelte:
- Authentizität: Keine unidentifizierte Herkunft der Daten
- Integrität: Keine unerkannten Änderungen
- Verfügbarkeit: Keine Systemausfälle
- Vertraulichkeit: Keine unautorisierten Zugriffe
Schon allein, wenn die Daten nicht verfügbar seien, könne es zu Einbußen in der Versorgungsqualität kommen. Angriffe erfolgten oft einfach deshalb, weil es möglich sei. M. Tschirsich führte eine erschreckend lange Liste mit Beispielen auf, bei denen ein illegaler Zugriff auf Gesundheitsdaten bereits gelungen ist. Diese reichte von Arztterminbuchungssoftware (Doctolib) bis hin zu Zertifikaten für Geimpfte. Auch ließen sich Video-Ident-Systeme durchaus täuschen und ermöglichen dann den Zugriff auf beliebige Patientendaten. Trotzdem gebe es eine Diskussion über zu viel Sicherheit, in der mit Verhinderung von Fortschritt durch den Datenschutz und Schlimmerem argumentiert werde. Das vereinfachte Verfahren beim e-Rezept mit Übertragung mittels Gesundheitskarte sei zum Beispiel problematisch, weil Apotheken alle Rezepte anhand der Versichertennummer einsehen können, wenn das e-Rezept nur noch auf dem Server gespeichert werde. Gesundheitskarten werden aber so gut wie ungeprüft ausgegeben und seien kein geeignetes Authentifizierungsmittel. Das betreffe im Übrigen auch Praxisausweise und Apothekerausweise, die man sich relativ leicht illegal beschaffen könne. Andererseits werden beispielsweise qualifizierte Signaturen auch unnötigerweise eingesetzt – wie bei der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU). M. Tschirsich und A. Zilch kamen zu dem Schluss, dass die falschen Probleme gelöst werden: „Es kann gleichzeitig ein Zuviel und ein Zuwenig an Sicherheit geben“.
»So viel Digitalisierung wie nötig, so wenig Digitalisierung wie möglich!«
Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Andreas Meißner aus München, Sprecher des Bündnisses für Datenschutz und Schweigepflicht, sprach zum Thema „Resilienz in Zeiten digitaler Überwachung – gibt’s noch Chancen, Schweigepflicht und informationelle Selbstbestimmung zu schützen?“ Informationelle Selbstbestimmung sei bei der beschlossenen Opt-out Lösung für die ePA nicht mehr vorhanden. Durch das Opt-out-Verfahren werde ein Zwang ausgeübt, zudem gebe es einen Zwang zum Ausfüllen der ePA und eine automatische Weiterleitung der Daten. Es bestünden wirtschaftliche Interessen an den Gesundheitsdaten, so hätten verschiedene Akteure bereits den Zugriff darauf gefordert. Dabei seien Forschungs- und Marktinteressen oft nicht zu trennen. Zum Beispiel die Pharmaindustrie solle vom Datenschatz profitieren. Es sei sogar ein europäischer Gesundheitsdatenraum in Planung, bei dem es einen Zwang geben soll, Daten zur Verfügung zu stellen. Schon heute fließen Abrechnungsdaten an Forschungszentren, obwohl erstere nur bedingt für die Forschung geeignet sind. Eine Widerspruchsmöglichkeit der Patienten gebe es dabei nicht. Die ärztliche Schweigepflicht und das Vertrauen werden so beschädigt.
Abgesehen davon beanspruche die Digitalisierung unglaubliche Mengen an Rohstoffen und Energie. Der Grundsatz müsste sein: So viel Digitalisierung wie nötig, so wenig Digitalisierung wie möglich! Es stelle sich die Frage, ob die TI für gute Medizin überhaupt nötig sei. Man könne durchaus auch an die TI angeschlossen sein, ohne die ePA zu befüllen. Insbesondere sensible und potentiell stigmatisierende Daten sollten nicht ohne Rücksprache mit dem Betroffenen eingegeben werden. Auch eine Online-Terminvergabe sei zu vermeiden. Die Patienten müssen über die Opt-out-Möglichkeit aufgeklärt werden. Manchmal sei ziviler Ungehorsam nötig, gegen Zwang und Überwachung müsse man Widerstand leisten.
Die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Gesundheitsdaten schafft Begehrlichkeiten
In der folgenden Diskussion wurden interessante Verkettungen herausgearbeitet: Wirtschaftliche Interessen (IT-Lobby, Pharmaindustrie etc.) treiben die Digitalisierung voran, die Politik spiele mit und die innerhalb der Diskussion heftig kritisierte Bundesärztekammer (BÄK) unterstütze diese Politik. Auch die Presse stehe teilweise unter Druck, weil sie beispielsweise auf die zahlreichen Anzeigen angewiesen sei, die Firmen wie Doctolib schalten.
Das führe letztendlich dazu, dass die ePA mit einer Befüllungspflicht und einer möglichen Verpflichtung zur Weiterreichung der Daten an den von der EU-Kommission geplanten europäischen Gesundheitsdatenraum mit länderübergreifender Speicherung komme. Eine öffentliche Diskussion des Problems finde kaum statt. R. Plassmann stellte die Frage, wem die Daten gehören. Ursprünglich gehörten sie doch Arzt und Patient, leider haben diese Daten jedoch einen wirtschaftlichen Wert, sodass uns der Besitz aus der Hand genommen werde. Dabei sollte man kommerzielle Interessen doch von medizinischen Interessen trennen.
Keine GOÄ-Reform in Sicht − Fluch oder Segen?
Noch spannender wurde es nach der Mittagspause: W. Dietrich wies in seiner Einführung auf eine Anfrage der CDU/ CSU vom August 2022 hin, in der es um die seit dem Jahr 1996 unveränderte GOÄ ging. Die Antwort der Regierung sei gewesen, diese müsste eigentlich angepasst werden − trotzdem passiere aber nichts. Die Freie Ärzteschaft rechne auch nicht mehr mit einer GOÄ-Reform in dieser Legislaturperiode.
»In Zeiten der ständigen Veränderungen gibt es eine Grundkonstante in Ihrem Leben, die sich nicht verändert, das ist die GOÄ«.
Mit dieser provokanten Bemerkung begann der Geschäftsführer des PVS-Verbandes Stefan Tilgner (M.A.) seinen Vortrag zum Thema „Die unendliche Geschichte der neuen GOÄ“. Die GOÄ sei eigentlich die grundlegende Gebührenordnung. Es handelt sich um eine Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates. Das Problem sei, dass der Verordnungsgeber nicht gezwungen werden kann, Empfehlungen zur deren Überarbeitung umzusetzen. Im Prinzip sei die GOÄ auf dem Stand von 1982. Im Jahr 1996 habe es lediglich eine grobe Aktualisierung gegeben, die zudem noch problembehaftet war. Die darauf folgende Idee einer Vertragslösung scheiterte an verfassungsrechtlichen und kartellrechtlichen Bedenken. Allerdings appellierte damals der Bundesrat an die BÄK, selbst Ergänzungsmöglichkeiten der GOÄ durch Entwicklung von Analogbewertungen wahrzunehmen.
Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer brachte während ihrer Amtszeit (1998– 2001) das Vorschlagsmodell in die Diskussion mit ein. Ein Bewertungsausschuss für privatärztliche Leistungen, paritätisch zusammengesetzt aus BÄK und PKV-Verband/Beihilferessorts sollte unter anderem die Vorarbeiten für eine neue GOÄ übernehmen. Es gab aber nur eine mündliche Zusage, das Verordnungsverfahren auf Grundlage des Vorschlages voranzutreiben. Das weitere Vorgehen wurde von den Ländern blockiert, die höhere Ausgaben bei der Beihilfe befürchteten. Im November 2005 beschloss die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, ein wissenschaftliches Institut solle im Auftrag des BMG ein einheitliches Vergütungssystem mit einheitlichen Preisen für die ärztliche Behandlung von Kassen- und Privatpatienten erarbeiten. PKV und BÄK arbeiteten in diesen Jahren an jeweils eigenen Konzepten, wurden sich über Grundsätze aber nicht einig. Im November 2009 vereinbarte die schwarz-gelbe Koalition in ihrem Koalitionsvertrag Novellierungen der GOZ und der GOÄ, die leider auch in dieser Reihenfolge abgearbeitet werden sollten. Im Jahr 2011 erklärte das BMG die vorhergehende Einigung zwischen BÄK und PKV-Verband auf ein gemeinsames Konzept zu GOÄ-Novellierung zur Voraussetzung für ein Verordnungsverfahren. Beide Parteien konnten sich zunächst nicht einigen, ob das Modell der BÄK oder das PKV-Modell weiterentwickelt werden sollte. Im März/April 2012 einigte man sich auf die Entwicklung eines gemeinsamen Integrationsmodells. Im Mai 2012 deutete die Koalition jedoch an, dass die Inkraftsetzung einer neuen GOÄ noch vor der Bundestagswahl 2013 nicht mehr umsetzbar sei.
Im Jahr 2013 wurde eine Rahmenvereinbarung zwischen BÄK und PKV geschlossen mit dem Ziel einer umfassenden Novellierung der GOÄ im Jahr 2014 und deren anschließender stetiger Weiterentwicklung und Pflege. Dabei sollten Analogbewertungen, Steigerungsfaktoren, Wahlarztketten und persönliche Leistungserbringung erhalten bleiben. Im Jahr 2014 erklärte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Novellierung der GOÄ ausdrücklich zum Ziel seiner Regierungsarbeit noch in dieser Legislaturperiode unter der Voraussetzung, dass sich BÄK, PKV-Verband und Beihilfe einig werden. Am 27. März 2015 überreichten BÄK und PKV-Verband dem Bundesministerium für Gesundheit ein Informationspaket über ihre Einigung. Auf dem außerordentlichen Ärztetag am 23. Januar 2016 gab es heftige Kritik an den Änderungen der Bundesärzteordnung, am neuen Paragrafenteil, über die mangelnde Einbindung der Berufsverbände und an der zu weitreichenden Delegation an die PKV.
Von 2016–2022 wurden die Leistungslegenden zwischen Fachverbänden, BÄK und PKV/Beihilfe konsentiert, wobei die auf dem außerordentlichen Ärztetag kritisierten Punkte stillschweigend hingenommen wurden. Der Prozess Leistungsbewertung wurde von ärztlicher Seite umgesetzt, die Abstimmung mit der PKV geriet jedoch ins Stocken. Eine Abgabe an das BMG sollte Ende 2022 stattfinden in der Hoffnung auf ein dann einsetzendes Verordnungsverfahren. Bundesgesundheitsminister K. Lauterbach äußerte jedoch klar seine Absicht, in dieser Legislaturperiode nichts zu unternehmen, was das Verhältnis von PKV zu GKV verschiebe, so sei es im Koalitionsvertrag beschlossen. Eine GOÄ-Reform, die dieses Verhältnis nicht berühren würde, scheint aber kaum möglich. Auf dem 126. Deutschen Ärztetag in Bremen wurde aufgrund der Vorbehalte der PKV gegen Bewertungen ein Pre-Test-Verfahren beschlossen, das bis Ende des Jahres abgeschlossen sein müsse, sonst sei die BÄK verpflichtet, den unkonsentierten Entwurf der GOÄ abzugeben (letzteres ist Anfang Januar 2023 tatsächlich geschehen). Das BMG erklärte allerdings, man erwarte einen konsentierten Entwurf. Selbst, wenn ein Konsens zu Stande käme, rechnet S. Tilgner in dieser Legislaturperiode nicht mehr mit Aktivitäten im BMG. Der Respekt vor dem freien Beruf Arzt schwinde zusehends. Die Lobby der Ärzteschaft sei derzeit sehr schwach, die GOÄ werde als nachrangig betrachtet.
Er nannte einige Zahlen zur Veranschaulichung der Größenordnungen:
- Von Privatpatienten auf Basis der GOÄ ambulant ausgelöste Mehrumsätze in Deutschland belaufen sich auf insgesamt 6,29 Milliarden Euro jährlich.
- Das entspreche 51.200 Euro je niedergelassenem Arzt.
- Der durchschnittliche Mehrumsatz eines 70-jährigen Privatversicherten liege bei 1.290 Euro, d. h. Regionen mit älterer Bevölkerung profitieren besonders.
Den Widerstand der PKV erklärte er damit, dass die PKV fürchte, die Vergütungen einzelner oder sogar vieler Fachgruppen nach der GOÄneu könnten im Realbetrieb „aus dem Ruder“ laufen. Beitragsanpassungen der PKV unterliegen aber einem streng regulierten Verfahren, dem Treuhänderverfahren, dieses könne erst angestoßen werden, wenn die Ausgabendynamik die 10 % Marke übersteigt. Als Zwischenlösung zum Ausgleich der aktuellen Energiekrise und der Inflation würde er nur die Möglichkeit sehen, den Punktwert anzuheben oder sogar einen dynamischen Inflationsausgleich in die alte GOÄ einzubeziehen.
Bürgerversicherung durch die Hintertür
Er wies außerdem darauf hin, dass im Teilbereich Krankenhaus die Bürgerversicherung bereits schleichend eingeführt werde: Im neuen Krankenhauspflegeentlastungsgesetz (KHPflEG) sei tatsächlich eine einheitliche Vergütung für GKV und PKV vorgesehen. Der § 17 Krankenhausentgeltgesetz kenne keine zusätzliche Privatvergütung im Krankenhaus.
Das letzte Referat hielt der Urologe Dr. med. Bernhard Kleinken, ehemaliger stellvertretender Dezernent bei der BÄK im Gebührenordnungsreferat, zum Thema „Mit der geltenden Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) leben und arbeiten – praktische Realität statt Fata Morgana“. Zunächst erörterte er den in der GOÄalt vorgesehenen Spielraum für den Steigerungssatz von 1,0-fach bis 3,5-fach, dabei beziehe sich der 2,3-fache Satz auf die nach Schwierigkeit und Zeitaufwand durchschnittliche Leistung (§ 5 GOZ). Im § 5 Abs.2 GOÄ sei festgelegt, dass innerhalb des Gebührenrahmens die Gebühren unter Berücksichtigung der Bemessungskriterien (Zeitaufwand, Schwierigkeit und Umstände) nach billigem Ermessen zu bestimmen seien. Ein Überschreiten des 2,3-fachen Gebührensatzes sei zulässig, wenn Besonderheiten der Bemessungskriterien dies rechtfertigen. Der höhere Aufwand müsse allerdings auf die jeweilige gesteigerte Leistung zutreffen. Der § 2 der GOÄalt ermögliche im Einzelfall eine Honorarvereinbarung (Abdingung) nach persönlicher Absprache zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem vor Erbringung der Leistung, die schriftlich erfolgen müsse, bei der nur ein abweichende Faktor vereinbart werden könne.
Massive Einschränkungen des Gestaltungsspielraums in der GOÄneu
Seine folgende Analyse der GOÄneu war vernichtend. Unter anderem sei in der GOÄneu ein nicht unterschreitbarer einfacher Satz vorgesehen, der ohne Beschluss der paritätisch aus BÄK und PKV-Verband/Beihilfe zusammengesetzten Gemeinsamen Kommission (GeKo), nicht gesteigert werden kann. Auch Analogabrechnungen sind in der GOÄneu nur noch für neue Behandlungsverfahren und auf Beschluss der GeKo zulässig. Bedenken äußerte B. Kleinken auch wegen der in der GOÄneu vorgesehenen Modellvorhaben, in denen von der GOÄ abweichende Regelungen getroffen werden können. Er wies nebenbei darauf hin, dass in der GOÄneu eine Sicherung der Qualität vorgesehen ist, die überhaupt nicht in eine Gebührenordnung gehöre.
Die Länder hielten die Beihilfekosten, mit denen immer argumentiert werde, stets geheim und nur auf hartnäckige Nachfrage erhalte man eine Auskunft, dabei spielten die Beihilfekosten im Länderhaushalt nur eine unbedeutende Rolle. B. Kleinken erörterte mit Nachdruck seine Ansicht, dass die Ärzteschaft durch die BÄK nicht sehr gut vertreten sei. In der folgenden Diskussion äußerte W. Dietrich seine Meinung, die alte GOÄ sei die bestmögliche Gebührenordnung, die jetzt noch möglichen Steigerungen könnten mit der neuen GOÄ nie erreicht werden. Mit den derzeit noch zulässigen erhöhten Steigerungsfaktoren haben die Diskussionsteilnehmer sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, aber wenn man den Patienten plausibel machen könne, dass der erhöhte Steigerungsfaktor erforderlich ist und diese ihn als angemessen empfinden, gebe es keine Probleme. R. Kleinken empfahl, bei Nachfragen zu antworten, die Leistung habe schon immer teurer sein müssen, „aber bisher konnte ich Ihnen entgegenkommen, jetzt kann ich es mir nicht mehr leisten“.
Dr. Axel Brunngraber (Stellv. Vorsitzender der Freien Ärzteschaft) äußerte den Verdacht, dass die Befürworter der Bürgerversicherung keine GOÄ-Reform wollen und deshalb die GOÄneu ausbremsen. Er halte letztere für eine Totgeburt. S. Tilgner vermutete auch, die Zeit laufe gegen die Ärzteschaft, der Gesundheitsminister steuere auf die Bürgerversicherung zu, auch wenn es anders im Koalitionsvertrag stehe.
(Quelle: Svea Keller, Der Augenarzt, 57. Jahrgang · 1. Heft · Februar 2023)