Debatte zur Digitalisierung auf FÄ-Kongress (I)

„Will man dafür die Schweigepflicht aufs Spiel setzen?“

Gesundheitsdaten für die Forschung, für die elektronische Patientenakte oder für mobile Gesundheitsanwendungen – im politischen Raum werden die Rufe nach einer umfassenderen Digitalisierung des Gesundheitswesens immer lauter. Die Kehrseite der Medaille wird dabei völlig verdrängt, warnten die Redner auf dem „Kongress Freier Ärzte“ am Samstag in Berlin: Zentral gespeicherte Daten würden sich nie vollständig vor unbefugten Zugriffen schützen lassen.

Ziel der Debatte auf dem von der Freien Ärzteschaft (FÄ) organisierten Kongress war eine Beleuchtung der Risiken der derzeitigen Digitalisierungsstrategie von mehreren Blickwinkeln aus. Den Anfang machte ein Psychoanalytiker: Prof. Reinhard Plassmann aus Tübingen legte den anwesenden Ärzten dar, dass die Bedeutung der gezielt oder beiläufig erhobenen Daten eines Menschen gar nicht unterschätzt werden kann, die Gefahr von „toxischen elektronischen Zugriffen“ aber kontinuierlich steige.

Aufgrund der politischen Pläne werde jeder Mensch einen „gigantisch anschwellenden Datenberg“ vor sich herschieben. Viele Informationen davon seien brisant. Für medizinische Forschungszwecke jedoch – wie öffentlich oft betont – am Ende kaum brauchbar. Darüber hinaus müsse darüber nachgedacht werden, wo die Datensammelwut am Ende hinführe. „Werden auch Gesprächsprotokolle aus psychotherapeutischen Sitzungen gespeichert?“, fragte Plassmann.

Ein fein granuliertes Rechtemanagement für den Patienten sei erstens aus dem Blick geraten und überfordere auch den Patienten. Für den Arzt sei das Einpflegen unzähliger Daten nicht zumutbar und in der knappen Praxiszeit auch nicht leistbar. Eine Sammlung von einfach reingeworfenen pdf-Dokumenten helfe aber auch niemandem. „Wem nützt das alles?“, hinterfragte Plassmann den Sinn der elektronischen Patientenakte.

Nach wie vor Sicherheitsfehler im System

Aus technischer Sicht beleuchteten die IT-Sicherheitsexperten Martin Tschirsich und Dr. André Zilch die derzeitige Entwicklung der Telematikinfrastruktur. Nicht nur beim Thema elektronische Patientenakte, auch bei Anwendungen wie dem Impfzertifikat oder dem elektronischen Rezept verdeutlichten sie Schwachstellen im System. Politk und Gematik verwiesen zwar immer auf Lösungen anderer Länder – hätten aber von den Fehlern, die man dort anfänglich gemacht habe, nicht gelernt. Gerade beim Aspekt der sicheren Authentifizierung seien fahrlässige Lücken zu finden. „Da sehen wir falsch Planung und insbesondere das Versäumnis, rechtzeitig für unabhängige Prüfung der Strukturen zu sorgen“, so Tschirsich. Auf den Vortrag beider IT-Experten im Video wird der änd in Kürze hinweisen, sobald das Video vorliegt.

„Datensparsamkeit“ bei TI-Anschluss

Kritisch zeigte sich auch Dr. Andreas Meißner, Psychiater und Psychotherapeut aus München und Sprecher des „Bündnis für Datenschutz und Schweigepflicht“. Er sprach sich insbesondere gegen die Opt-Out-Regelung bei der elektronischen Patientenakte aus: “Zwang erscheint in vielen Bereichen offenbar nötig, damit Digitalisierung effizient sein kann. Wenn dafür alle mitmachen müssen, wie das laut aktuellem McKinsey-Report nun angeblich auch 96% aller Praxen mit ihrem TI-Anschluss tun, können auch alle überwacht werden, oder eben auch viele Daten – oft auch zu nicht gemeinwohldienlichen Zwecken – gesammelt oder gehackt werden, wie wir das kürzlich bei 9,7 Millionen australischen Gesundheitsdaten erlebt haben, die dann im Darknet gelandet sind, oder 2020 bei Tausenden äußerst sensibler finnischer Psychotherapiedaten.“

Letztes Jahr hätten schon zahlreiche Industrieverbände einen leichteren Zugang zu den ePA-Daten gefordert, darunter unter anderem der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Bundesverband Gesundheits-IT, der Pharmaverband vfa und der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie. „Das sind nun teilweise Verbände, die mit Versorgung von Patienten bzw. patientenbezogener Forschung nicht all zuviel zu tun haben. Und häufig lässt sich hehre Forschung eben nicht von gewinnorientierter Marktwirtschaft trennen, mit vorrangigem Interesse an hohem Absatz von Produkten.“

Er sei nach wie vor überzeugt davon, dass es richtig sei, die Praxis nicht an die TI anzuschließen. Kollegen, die dies dennoch so vorgenommen hätten, riet er zur Vorsicht, was über die Patienten in das System gelange. „Man kann an die TI angeschlossen sein, muss dann aber lange noch nicht die ePA befüllen, es sei denn, das grandiose Erstbefüllungshonorar von 10 Euro verlockt einen“, so Meißner ironisch. „Will man dafür die Schweigepflicht aufs Spiel setzen? Das Gebot der Datensparsamkeit wird auch bei Befüllung der ePA zu beachten sein.“

Dr. Silke Lüder von der Freien Ärzteschaft erinnerte daran, wem die Daten im Gesundheitswesen eigentlich zuzusprechen seien: „Bei uns Hausärzten liegen die gesammelten Daten. Sie gehören natürlich uns als Arbeitsergebnisse und natürlich den Patientinnen und Patienten. Sie bekommen direkt von uns alle Informationen, die sie benötigen oder anfordern – und das seit vielen Jahren schon. Wir haben elektronische Akten in unseren Praxen.“ Die zentrale Datenspeicherung dagegen biete unüberschaubare Risiken für die ärztliche Schweigepflicht sowie die informationelle Selbstbestimmung der Bürger in Deutschland.

(Quelle: änd – Ärztlicher Nachrichtendienst, Hamburg, 4.12.22)