Risiken von Industrialisierung und Kommerzialisierung der Medizin
Was bedeuten Industrialisierung und Kommerzialisierung in der Medizin für unser Gesundheitswesen und die medizinische Behandlungsqualität? Das erläuterte FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich ausführlich in seinem Vortrag beim Kongress Freier Ärzte im Juni in Berlin. Dabei gehe es nicht mehr nur um die Frage der Anstellung vormals selbständiger Ärzte in MVZ, die dann Kapitalgesellschaften gehören, oder um monetäre Fehlanreize.
Im Wortlaut:
Wir als Freie Ärzteschaft haben das Thema Industrialisierung der Medizin bereits 2006 beim Hauptstadtkongress hier in Berlin öffentlich gemacht. Damals hatte das auf Seiten der Ärzteschaft noch lange niemand im Fokus – erst seit etwa drei bis vier Jahren befasst sich auch die verfasste Ärzteschaft damit, und erst 2016 wurden anhängige Probleme erstmalig in einem eigenen Tagesordnungspunkt auf dem Ärztetag in Hamburg diskutiert. Aber Achtung, liebe Kollegen und Kollegen: Die Entwicklung geht weiter. Es geht nicht mehr nur, wie anfangs, um die Frage der Anstellung vormals selbständiger Ärzte in MVZ, die dann Kapitalgesellschaften gehören, oder um monetäre Fehlanreize oder gar Diktate von Verwaltungsdirektoren gegenüber Klinikärzten – ein Konflikt, der inzwischen auch durch unser maßgebliches Zutun in der Öffentlichkeit angekommen ist. Die Entwicklung geht weiter, ich werde das erläutern.
Doch zunächst ein kurzer Blick zurück: Seit den 1990er-Jahren ist es geradezu ein Dogma in Deutschland, dass die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung begrenzt werden – die Lohnnebenkosten dürfen keinesfalls steigen. Im Gesetz „Gesundheit 2000“ von 1999 wurde ein Globalbudget für die GKV eingeführt, das die Ausgaben der Krankenkassen begrenzen sollte.
Hagen Kühn vom Wissenschaftszentrum Berlin stellte damals fest, dass damit „die gesetzliche Norm der Bedarfsorientierung hinter die Norm der Beitragssatzstabilität zurückgestellt“ wurde. Deutlicher: Die Begrenzung der Lohnnebenkosten ist im Zweifelsfall wichtiger als Gesundheit für alle. Der Staat zieht sich allmählich aus der Finanzierung des Gesundheitswesens zurück.
Infolge dieser Budgetierung über viele Jahre können Vertragsärzte viele Leistungen nicht mehr ordentlich, mitunter auch gar nicht mehr „auf Kasse“ anbieten, weil sie praktisch nicht oder nicht mehr kostendeckend bezahlt werden. Die ambulante GKV-Medizin bezahlt die allermeisten ärztlichen Leistungen über die KVen mit absoluten Dumpung-Beträgen. Schlimmer noch: In der Patientenbehandlung werden viele Leistungen gar nicht bezahlt, weil das Einzelhonorar in Billigpauschalen versenkt ist.
Der Staat und mit ihm die KVen reden zwar vordergründig von Versorgungsqualität, tatsächlich bricht eine zuwendungsorientierte, eine auch fachlich gute und individuelle Medizin aber immer mehr weg, weil sie für Centbeträge nicht mehr zu erbringen ist.
Parallel zu diesem Spardiktat hielt mit Ulla Schmidt seit dem Jahr 2000 eine zunehmende Industrialisierung im deutschen Gesundheitswesen Einzug, in der Pflege war dies bereits einige Jahre früher der Fall. Es sollte mit der Transformation des Gesundheitswesens zum Markt der Wettbewerb in die Gesundheits“versorgung“ eingeführt werden, so wie bei der Privatisierung von Post oder Telekommunikation vor zwei Jahrzehnten. Wie zuvor in den USA betrachtete die Politik auch das Gesundheitswesens als einen Markt für die Gesundheitswirtschaft, die finanziellen Stakeholder sprechen gar von industrieller Gesundheitswirtschaft. Auf der Makroebene wurden Kliniken oftmals defizitär und von privaten Investoren übernommen. Die Privatisierung war gewollt, 1. weil politische Kreise meinten, die Privatisierung mache es billiger und besser, 2. weil es in politischen Kreisen erhebliche Eigeninteressen an einer Privatisierung gibt und gab, 3. weil ökonomische Lobbygruppen maßgeblichen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und ständig neue Geschäfts- und Investitionsfelder erschließen wollen, und 4. weil der Staat sich auf diese Weise der zunehmend als finanzielle Last empfundenen Pflichtaufgabe der Bereitstellung von Krankenversorgung als Daseinsvorsorge, als soziale Aufgabe, entledigen kann.
Wo sind die Risiken der Industrialisierung in der Medizin?
Der Ökonom und Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von Ökonomismus, wenn die Rolle der Ökonomie gesellschaftspolitisch immer stärker in den Vordergrund tritt. Es kommt zur Verselbständigung ökonomischer Rationalität gegenüber ethischen und praktischen Gesichtspunkten, und es kommt zu einer Verabsolutierung des Kosten-Nutzen-Denkens. Anstatt einer angemessenen Einbettung des Marktes in soziale Beziehungen werden umgekehrt zwischenmenschliche Beziehungen relativiert und dem Markt untergeordnet. In einem übersteigerten Kosten-Nutzen-Denken treten übergeordnete, außerökonomische Werte- und Zweckorientierungen in den Hintergrund. Im Gesundheitswesen sind es letztlich ethische Motive, die nachrangig werden, das Humane droht verloren zu gehen.
Hagen Kühn und Michael Simon haben 2001 darauf hingewiesen, dass aus fortschreitender Ökonomisierung eine Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation folgt, sodass „Geld (…) nicht mehr Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken (ist), sondern die Versorgung von Kranken (…) Mittel zum Zweck der Erzielung und Optimierung von Erlösen“ wird.
Dieser Paradigmenwechsel, die Umwidmung von Mittel und Zweck der Finanzierung der Krankenbehandlung ist Folge und Motiv zugleich, wenn mit der Kommerzialisierung aus dem Gesundheitswesen eine Gesundheitswirtschaft, aus Patienten Kunden, aus Ärzten abhängige Leistungserbringer gemacht werden sollen.
Ein Element dieser Transformation ist das Entfachen von Wettbewerb mit dem Ziel der Kostensenkung auf allen Ebenen ärztlicher Behandlung. Wettbewerb von Kliniken gegeneinander und gegen niedergelassene Ärzte, Hausärzte gegen Fachärzte, die KVen gegen Selektivvertragler, Ärztenetze gegen Einzelpraxen und MVZ usw.
Im Wettbewerb müssen in den Kliniken Personalkosten gesenkt und Bereiche outgesourct werden, nicht gewinnbringende Geburtshilfestationen werden geschlossen. Es muss ja Rendite für Kapitalgeber erwirtschaftet werden. Effizienzpotenziale müssen gehoben werden, Arbeitsprozesse optimiert und verdichtet, sogenannte „unproduktive“ Zeitfenster gilt es zu eliminieren, Patienten werden nach Ende der kalkulatorischen Liegezeit blutig entlassen, eventuell nach ein paar Tagen erneut aufgenommen. Eine Tendenz ist, zur Senkung der Personalkosten statt Ärzten arztsubstituierende Berufsgruppen, wie den Physician Assistant, zu fördern und zu fordern. Selbst öffentlich-rechtliche Universitätsklinika sehen sich als „Unternehmen“, auch dort werden Patienten mitunter „Kunden“ genannt und der Case Manager entscheidet, ob der Patient stationär aufgenommen wird oder ob er eine häusliche Krankenpflege bekommt.
Überformung ärztlichen Handelns durch ökonomische Strategien und Ziele
Ärzten und Pflegepersonal wie auch den Patienten geht die Möglichkeit zwischenmenschlicher, sogenannter nicht-funktionaler Kommunikation zunehmend verloren. Es kommt zur Überformung ärztlichen und pflegerischen Handelns und Denkens durch ökonomische Strategien und Ziele. Ein Beispiel dafür ist, und da fassen wir uns jetzt mal an die eigene Nase, wenn Patienten angesichts einer einmaligen Ordinationspauschale im Quartal oftmals auch nur einen Termin im Quartal in der Praxis bekommen. Das ist ökonomisch rational, es ist aus Sicht des Vertragsarztes verständlich, aber es ist nicht im Sinne guter und patientenorientierter Medizin – aber es ist letztlich Folge eines falschen Systems.
Andererseits belastet die Gesamtsituation viele Vertragsärzte heutzutage schwer. Unterfinanzierung durch Flatrate-Honorare zwingt brutal zur Massenabfertigung, die Zeitfenster sind eng, die Möglichkeit, gute Medizin zu machen, wird durch geringe Honorare, aber auch durch Regressandrohungen immer weiter eingeengt. Auch in den Praxen wird Personal abgebaut, unrentable Leistungen fallen weg. Wenn Hausbesuche, Kompressionsverbände oder Brillenanpassungen im System der GKV nicht mehr bezahlt werden, können sie unter ökonomischem Druck auf Dauer in diesem System auch nicht mehr erbracht werden. Aber: Die Ursache dieses Verschwindens sinnvoller oder notwendiger Behandlungsoptionen ist auch hier ein Systemfehler, der Einzelne kann sich dem auf Dauer kaum widersetzen, außer vielleicht durch Selbstausbeutung.
Entscheidet der Arzt noch unabhängig im Interesse des Patienten?
Ein weiteres Risiko für die Qualität in der Medizin liegt in der Frage der Indikationsstellung aufgrund ökonomischer Anreize. Entscheidet der Arzt noch unabhängig im Interesse des Patienten, oder wird etwa operiert, weil das mehr Geld bringt, etwa weil der leitende oder auch der nicht leitende Klinikarzt einen Vertrag mit entsprechender Zielvereinbarung unterschrieben hat, oder weil der Praxisarzt für die konservative Behandlung im Vergleich zur Operation fast nichts von der KV bekommt? Das Thema Zielleistungsvereinbarung im Krankenhaus wird glücklicherweise in Ärztekammern, beim Marburger Bund und auch in der Politik intensiver bearbeitet. Aber leider spielt das Problem des Verlustes ärztlicher Unabhängigkeit und fairer Handlungsoptionen durch systematische Unterfinanzierung in der ambulanten Medizin praktisch noch gar keine Rolle.
Das Gesundheitswesen wird zum Markt für die globale Finanzindustrie
Wenn wir uns noch einmal die zunehmende Privatisierung von Kliniken, aber auch von ambulanten Behandlungseinrichtungen anschauen, ergibt sich ein weiteres Problemfeld: Das Gesundheitswesen wird zum Betätigungsfeld, zum Markt für die globale Finanzindustrie. Im Zuge der Globalisierung investieren Gesundheitsunternehmen und Finanzindustrie weltweit – und das Geld geht dorthin, wo die höchste Rendite erwirtschaftet werden kann. Unsere Gesellschaft und unsere Gesundheit gerät damit aber in die Abhängigkeit internationaler Konzerne. Bei Arzneimitteln treten als Probleme zutage, dass bestimmte Medikamente vom Markt genommen und gar nicht mehr angeboten werden, dass andere Medikamente demgegenüber absurd teuer sind. MVZ von Konzernen betrieben entstehen immer in sozioökonomisch begüterten Gegenden, meistens in den Zentren von Großstädten, aber nie auf dem platten Land.
Eine Frage des Vertrauens
Ein entscheidender Aspekt für die Zukunft der Ärzteschaft ist die Vertrauensfrage. Die Frage, ob der Patient dem Rat des Arztes vertrauen kann, was wiederum maßgeblich davon abhängt, ob der Arzt überhaupt die Möglichkeit hat, im Sinne des Patienten unabhängig zu entscheiden. Davon wird es abhängen, ob die Ärzteschaft trotz vieler Anfeindungen aus unterschiedlichen Richtungen maßgebliche Bedeutung behält, oder ob wir diese Bedeutung verlieren. Denn ein gerechtfertigtes Vertrauen in die Unabhängigkeit des Arztes, im Sinne des Patienten zu handeln, ist nicht nur der Grundpfeiler gelingender Kommunikation in der Arzt-Patienten-Beziehung – es ist gerade in einer Zukunft totaler Informationsakquise über das Internet das Merkmal, das Ärzte von der diffusen Informationsflut des Internet unterscheiden muss.
Denn wir wissen ja, dass auch im Internet kommerzielle Interessengruppen stark vertreten sind. Kommerzielle Anbieter sind dort reihenweise werblich aktiv, Werbung ist dabei nicht immer ohne Weiteres zu erkennen, und auch der Patient als User wird mit personalisierter Werbung überschüttet. Das funktioniert noch nicht perfekt – man bekommt auch dann noch Werbung für ein bestimmtes Schmerzmittel eingespielt, über das man sich informieren wollte, nachdem die Kopfschmerzen lange verschwunden sind. Eine Gruppe von Homöopathie-Befürwortern hat mehr als 70 Bots – automatisierte Computerprogramme – installiert, die Werbung für Homöopathie in sozialen Netzwerken machen. Am Ende muss man immer sehr genau schauen, wer hinter bestimmten Aussagen zu Gesundheitsfragen steckt, und leider sind nicht wenige Bürger und Patienten damit überfordert.
Die wesentlichen Risiken von Ökonomismus und Industrialisierung des Gesundheitswesens zusammengefasst in 10 Punkten:
- Gute, humane Medizin tritt gegenüber ökonomischen Zielen in den Hintergrund – das Risiko des Qualitätsverlusts in der Medizin steigt.
- Risiko des Identitätsverlusts bei Ärzten und in den Gesundheitsberufen, Verlust zwischenmenschlicher Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten, abnehmende Berufszufriedenheit, bis hin zu Krankheiten und vorzeitigem Ausscheiden aus dem Beruf.
- Aus Renditegründen reduzieren kommerzielle Anbieter „unrentable“ Bereiche der Medizin, ungeachtet ihrer Wichtigkeit.
- Strukturell bzw. geografisch wird dort investiert, wo bessere sozioökonomische Bedingungen herrschen, unabhängig von der Morbidität.
- Zunehmende „Versorgungsprobleme“ als Folge, in der ärztlichen Behandlung, bei der Verfügbarkeit von Medikamenten usw.
- Ärztliches Handeln läuft Gefahr, durch ökonomische Anreize oder Sanktionen die Unabhängigkeit zu verlieren – das Risiko ökonomisch motivierter ärztlicher Entscheidungen steigt.
- Es droht ein Vertrauensverlust in die Ärzte, andere Medizinberufe und in das gesamte Gesundheitswesen.
- Vertrauensverlust birgt weitere Risiken wie verspätete Diagnostik, verspätete Therapie, Non-Compliance, Aufsuchen von Paramedizin.
- Interessengesteuerte Informationen kommerzieller Anbieter im Internet können inadäquat sein, es kann auch Desinformation sein.
- Die Datenverwendung auf kommerzieller Ebene kann die Persönlichkeitsrechte von Bürgern und Patienten verletzten.
Literatur:
- Paul U. Unschuld: Arzt und Patient in der Gesundheitswirtschaft. Das Ende des Vertrauens? Vortrag 2014 in Wiesbaden
- Paul U. Unschuld, Ware Gesundheit. Das Ende der klassischen Medizin. C.H.Beck-Verlag, 3. Auflage, München, 2011
- Hagen Kühn, 2001
- Hagen Kühn (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin) Gesundheitswesen im Wandel – eine sozialwissenschaftliche Sichtweise. Referat am 26.09.1996 an der Universität Witten-Herdecke
- Noweski: Der unvollendete Korporatismus
- Peter Ulrich 2001 S.127f.
- Peter Ulrich 2007 S.138f.
Wieland Dietrich, Juni 2018