Quo vadis Gesundheitspolitik – Staatsmedizin oder digitaler Kapitalismus?

FÄ-Vize Dr. Silke Lüder

„Die staatliche Regelungswut findet im Vordergrund statt“, betonte FÄ-Vizevorsitzende Dr. Silke Lüder beim Kongress Freier Ärzte 2018. Im Hintergrund gebe es immer relevanter werdende Konzernstrukturen, die aus dem System mit dem Geld der gesetzlich Versicherten Renditen für international agierende Konzerne erwirtschaften. Alle Gesundheitsreformen hätten dazu geführt, dass die Schere zwischen der Finanzierung des ambulanten und des stationären Systems immer weiter auseinandergegangen ist.

Der Vortrag im Wortlaut:

Ich war in diesem Jahr beim Deutschen Ärztetag. Wie auch in den letzten zehn Jahren. Zum ersten Mal wurde dieser von Jens Spahn eröffnet. Er warb um eine konstruktive Lösungssuche, gemeinsam mit der Ärzteschaft wolle er um den richtigen Weg in der Gesundheitspolitik streiten. Hörte sich gut an. Um aber zu prüfen, ob ein solcher konstruktiver Weg unter Einbezug der Ärzteschaft überhaupt geplant ist, muss man sich dann doch den neuen Koalitionsvertrag anschauen, der auch von Spahn vermutlich Punkt für Punkt abgearbeitet werden wird.

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag atmet vordergründig den Geist der Staatsmedizin. Geprägt von Misstrauen, Regelungswut, planwirtschaftlichem Denken und einem völligen Unverständnis von freiem Beruf und Selbstständigkeit.

Kliniken werben mit Full-Service-Programm in den Notfallambulanzen

Was ist im Augenblick das am meisten gehypte Thema im Medizinbereich? Die angeblich endlosen Wartezeiten auf Arzttermine. Und die daraus angeblich resultierende explodierende Fallzahl der Akutfälle in den Notfallambulanzen der Kliniken. Ganz davon abgesehen, dass bei genauer Betrachtung der Fallzahlsteigerung zu sehen ist, dass sich die Fallzahlen in Arztpraxen und Klinikambulanzen nach ersatzloser Streichung der Praxisgebühr nach 2013 ähnlich entwickelt haben und die Kliniken in vielen Bereichen sogar Werbung mit dem Full-Service-Programm in den Notfallambulanzen machen, da sie von dort aus 50 Prozent aller stationären Fälle generieren.

Wir wissen alle, dass es nur an der Feigheit politischer Vertreter liegt, dass man sich scheut, entsprechende Regelungen zur Selbstbeteiligung der Versicherten wie in anderen Sozialstaaten auch einzuführen.

Statt dessen plant die GROKO jetzt die Erhöhung der Mindestsprechstundenzahl von 20 auf 25 Stunden in der Woche, zwingt die Kassenärztlichen Vereinigungen, an Kliniken Portalpraxen einzurichten, in denen wir als Praxisärzte dann abends, nachts und am Wochenende Dienst machen müssen oder wie jetzt in Hamburg auch noch tagsüber während der Sprechstundenzeiten mit dem mobilen Service Hausbesuche zu absolvieren. Das alles verschlingt unsere Lebenszeit und zusätzlich das Geld aus der morbiditätsorientierten Grundversorgung, welches wir für die persönlich erbrachten Arztleistungen am Patienten bekommen. In Hamburg bekommen alle Haus- und Fachärzte jede vierte Leistung nicht bezahlt.

Kommissionen werden Selbstverwaltung entmachten

Des Weiteren entsteht gerade eine ganz elende Kommissionitis, mit der die Politik die sogenannte Selbstverwaltung weiter entmachten wird. Die eine Kommission soll bis Ende 2019 erarbeiten, ob man nicht den EBM als Leistungskatalog und Verteilmaßstab mit der einzigen echten Gebührenordnung, der GOÄ, zusammenlegen kann. Die Einführung einer Bürgerversicherung durch die Hintertür findet auch schon statt. Die SPD-Gesundheitssenatorin in der Hansestadt Hamburg hat durchgesetzt, dass die neuen Beamten mit Unterstützung von Steuergeldern in die GKV geschleust werden und damit der PKV-Bereich weiter geschwächt wird.

Eine Bund-Länder-Kommission unter Beteiligung der Regierungsfraktionen soll die sektorenübergreifende Versorgung für die Bereiche Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung weiterentwickeln. Der Begriff „weiterentwickeln“ ist euphemistisch.

Denn in Wirklichkeit geht es um eine völlige Veränderung des Gesundheitswesens. Ohne Beteiligung der Ärzteschaft. Politiker und Beamte werden das unter sich ausmachen. Ärztevertreter sind nicht eingeplant. Die Sprengkraft dieser Kommission ist vielen gar nicht klar. Sie entmachtet die sogenannte Selbstverwaltung. Die aber natürlich nach außen hin weiter aufrechterhalten bleiben soll. Schließlich benötigt man einen schwarzen Peter für alles Unangenehme.

Zulassung nach Gusto eines rot-grünen Hamburger Senats?

Und was wird da wohl heraus kommen? Eine kleinräumige Bedarfsplanung. In Hamburg würde das sofort dazu führen, dass mit einem Schlag die Anzahl der Kassenarztsitze in die Höhe schnellen würde. Zu zahlen von allen. Zulassung nach Gusto eines rot-grünen Senats? Wir können sicher sein, dass alles genehmigt wird, was die Kliniken sich an Ermächtigungen und MVZ als Ansaugstutzen für den Großkonzern wünschen. Honorierung? Wird wohl schön im Budget bleiben. Kodierung? Es ist zu befürchten, dass die Politik, statt ihre eigenen Hausaufgaben in Bezug auf eine Reform des Risikostrukturausgleichs zu machen, die ambulanten Kodierrichtlinien von 2013 wiederbeleben wird. Also täglich eine Stunde mehr Bürokratie für den Kodierwahnsinn. Die neueste Idee von Jens Spahn ist sein nächstes Pflegegesetz, welches eine Muss-Regelung für die KVen beinhaltet, die niedergelassenen Ärzte innerhalb von drei Monaten in einen Kooperationsvertrag mit den örtlichen Pflegheimen zu zwingen. Von Jörg Berling, KV-Chef in Niedersachen, wurde das sehr richtig als „Einstieg in den nationalen Gesundheitsdienst“ bezeichnet.

Ich bin seit mehr als 20 Jahren in Hamburg niedergelassen als Allgemeinärztin. Ich liebe die Allgemeinmedizin, weil sie so vielfältig ist. Bis 2006 hat mich Gesundheitspolitik überhaupt nicht interessiert. Ich war vollauf beschäftigt mit dem Spagat zwischen Praxis und Kinderbetreuung. Aber die großen Ärzteproteste 2006 haben das verändert. Und der Plan, aus unserem Gesundheitswesen nach dem Motto „Alles auf eine Karte setzen, elektronisches Regieren und die Gesundheitskarte“ bestimmt seither meine sogenannte Freizeit. Mehrere Jahre lang hatte ich außerdem als stellvertretende Vorsitzende der Vertreterversammlung der KV in Hamburg jede Woche in der Vorstandskonferenz die Gelegenheit, die Kassenärztliche Vereinigung als Körperschaft kennen zu lernen. Deutlich mehr als viele Kollegen ahnen geht es dort um eine ausführende Behörde. Die Zwangsschrauben des SGB-V haben die Körperschaft schon lange in der Klemme. Und die Freiheitsgrade dort sind deutlich kleiner als viele Praxisärzte immer noch glauben.

Aber mit dem neuen Koalitionsvertrag ändert sich da noch Einiges. Wenn zum Beispiel die Länder im Zulassungsausschuss von Kassen und KV plötzlich ein Antrags- und Mitberatungsrecht bekommen. Gleiches auf der Bundesebene im Gemeinsamen Bundesausschuss. Man kann sich ausrechnen, wie viele neue von uns bezahlte Stellen im Personaltableau der KV das hervorrufen wird. Und wie die Anträge der Politik plötzlich vor Landtagswahlen in die Höhe schnellen werden. Auch in Hamburg sehen wir, wie jeder Bürgerschaftsabgeordnete in seinem Wahlkreis medial auf den Putz haut. Damit es doch bitte in seinem Wahlkreis durch die böse KV ein paar neue Zulassungen für Kinder-, Frauenärzte oder Rheumatologen geben soll. Zu zahlen natürlich aus dem gedeckelten Budget aller. Aber das begreifen ja leider nach meiner eigenen Erfahrung nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen bei der KV-Kreisversammlung.

Und: Es ist immer noch verdammt praktisch für die Influencer in unserem System: Wenn etwas gut läuft, dann hat es die Politik gut gemacht. Wenn es schlecht läuft ist die Selbstverwaltung daran schuld. Die KV als Prellbock spielt eine wichtige Rolle.

Aber was passiert im Hintergrund?

Findet wirklich eine echte Verstaatlichung des Systems statt? Ich meine nein. Die staatliche Regelungswut findet im Vordergrund statt. Im Hintergrund gibt es immer wichtiger werdende Konzernstrukturen, die aus dem System mit dem Geld der gesetzlich Versicherten Renditen für international agierende Konzerne erwirtschaften. Alle Gesundheitsreformen haben dazu geführt, dass die Schere zwischen der Finanzierung des ambulanten und stationären Systems immer weiter auseinandergegangen ist. In den 1970er-Jahren lagen die Ausgaben für das ambulante und das stationäre System in etwa gleich bei ca. 23 Prozent. Anschließend wanderten im Rahmen der Einführung von stationären DRGs viele teure Bereiche in den ambulanten Sektor. Diabetologie, Dialyse, Strahlentherapie, Rheumatologie, Onkologie, ambulantes Operieren und v. a. mehr. Trotzdem geben die GKV-Kassen jetzt maximal 17 Prozent für den ganzen ambulanten Sektor aus, der mehr als 90 Prozent aller Krankheitsfälle behandelt, und 36 Prozent für den stationären Sektor, der sich immer weiter in den Händen großer privater Konzerne befindet. Dialyse ist ein lukratives Geschäft, der entsprechende Konzern aus dem stationären Sektor hat auch die Dialyse-MVZ in der Hand und stellt außerdem die gesamten Sachkosten für den Bereich her.

Zusätzlich profitieren die bekannten Konzerne des digitalen Kapitalismus von dem Hype um Big Data, Telemedizin, Fernbehandlung und Totalvernetzung, an dem sich leider auch genügend Vertreter unserer Profession als Stichwortgeber beteiligen. Die selbstständigen Arztpraxen sind die Verlierer dieser Entwicklung. Sie werden zerrieben. Aber nicht nur sie, sondern vor allem die Kranken in unserem Land. Denen werden in absehbarer Zeit ihre vertrauten Haus- und Fachärzte vor Ort an vielen Stellen fehlen.

Die große Frage: Können wir dagegen etwas tun?

Es geht um die Existenzfrage. Auch das wollen wir heute diskutieren. Mit unseren eingeladenen Experten hier auf dem Podium und mit Ihnen im Publikum.

Dr. Silke Lüder, Juni 2018