Bericht vom Kongress Freier Ärzte 2022 in Berlin, Teil 1

Seit 2013 findet der Jahreskongress der Freien Ärzteschaft mittlerweile schon in Berlin im großen Saal der Katholischen Akademie, Hotel Aquino statt. Auch in diesem Jahr wieder unter der hervorragenden Moderation von Jan Scholz (änd) ein Highlight der kritischen Berufspolitik mit Referenten, die in vielerlei Hinsicht die Fehler der Gesundheits- und Digitalpolitik beleuchteten.

Nach einleitenden Worten von Dr. Christian Messer, dem Vorsitzenden von Medi Berlin-Brandenburg, von Wieland Dietrich, dem Bundesvorsitzenden der Freien Ärzteschaft und von Dr. Silke Lüder als Vizevorsitzender der FÄ, beleuchtete der Hauptreferent der ersten Session, Prof. Dr. Reinhard Plassmann aus Tübingen als anerkannter Wissenschaftler die persönlichen und gesellschaftlichen Folgen der geplanten Elektronischen Patientenakte (EPA) für Patienten. Die geplante Akte rufe „toxische elektronische Zugriffe auf die Identität des Menschen“ hervor, sie gleiche künftig dem chinesischen Sozialkreditsystem, es entstünden digitale Doppelgänger mit konstruierten Identitäten. Von der Geburt bis zum Tode wanderten dort „alle medizinischen Daten in einen gigantisch anschwellenden Satz“. Das erforderliche sorgfältige Ordnen, Systematisieren und Einpflegen der Berichte, Gutachten und Anamnesen sei gar nicht machbar. „Unvermeidbare Datenfehler haben in der Medizin katastrophale Folgen“ gab er zu bedenken. „Gelangen Informationen an die Öffentlichkeit, sind sie nicht wieder einzufangen. Einmal im Netz ist immer im Netz. Der (fiktive) Felix Meyer wird schizophren bleiben, auch wenn er es tatsächlich nicht ist! Das Hauptproblem der geplanten elektronischen Patientenakte ist die zentrale Datenspeicherung. Die zentral gespeicherten Daten werden niemals gegen alle Zugriffe von außen geschützt werden können und sie werden somit de facto öffentlich sein. Es gibt bislang auch keine plausible Erklärung, warum überhaupt eine zentrale Datenbank geschaffen werden soll. Ich forsche selbst an der Entwicklung der menschlichen Identität. Und ich weiß daher auch wie die Identität beeinflusst und manipuliert werden kann. Auch deshalb stehe ich der zentralen elektronische Patientenakte sehr kritisch gegenüber“.

Schwachstellen und Sicherheitslücken lange bekannt

Das berichteten auch Martin Tschirsich, Datensicherheitsexperte, und Dr. André Zilch, Experte für Informationssicherheit und Identitätsmanagement. Die beiden haben zusammen mit weiteren Experten aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs seit Jahren Sicherheitslücken und Schwachstellen aufgedeckt, so zum Beispiel beim der Gesundheitsakte Vivy, bei der Praxissoftware, bei Corona APPs, bei Impf-APPs, bei Doctolib und bei Videoident-Systemen. Bei der elektronischen AU würden überflüssigerweise zeitaufwändige digitale Signaturen verlangt, während andererseits sichere digitale Identitäten zur Wahrung der Integrität von neuen Verfahren nicht eingeführt werden würden. „Die digitale Vernetzung des Gesundheitswesens verspricht Nutzen und bedroht dennoch Gesundheitsdaten und Versorgungsprozesse in ihren Grundwerten. Zur Sicherstellung von Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit zeigt die Telematikinfrastruktur gute Ansätze, ist in der Umsetzung jedoch durch zahlreiche Fehler belastet.“ Die beiden Experten führten als Beispiel für eine völlig falsche Planung die Einführung der e-AU an:

„Der Fokus liegt auf der Übertragung eines Formulars „AU“ mit Unterschrift in die digitale Welt, ohne aber den rechtlichen Rahmen und die Verarbeitung bei Krankenkassen zu berücksichtigen. Die Mitteilung der Arbeitsunfähigkeit stellt eine Tatsachenmitteilung der Versicherten an die Krankenkassen dar, die mündlich, schriftlich, telefonisch oder auf elektronischem Wege erfolgen kann. Eine qualifizierte elektronische Signatur durch den Arzt ist, Stand heute, auch aufgrund der aktuellen Abläufe bei Krankenkassen nicht notwendig. Darüber hinaus weisen die vorgegebenen Abläufe der elektronischen AU zahlreiche Unzulänglichkeiten auf, die im Ärztealltag hinderlich sind und keinen Sicherheitsgewinn bieten.“

Digitalisierung als Selbstzweck

Digitalisierung sei zum Selbstzweck geworden, beklagte Dr. Andreas Meißner, Facharzt für Psychiatrie in München und Sprecher des Bündnisses für Datenschutz und Schweigepflicht. In die Telematik-Infrastruktur seien bislang 6 Milliarden Euro geflossen, mit dem geplanten Forschungsdatenzentrum und dem geplanten EU-Datenschutzraum ginge die Patientensouveränität verloren und die Verbesserung der Medizin durch diese Datenberge werde nur behauptet. „Wir müssen unsere Patienten besser über die Risiken der digitalen Kommunikation aufklären!“ „Es gibt noch Chancen, die ärztliche Schweigepflicht und informationelle Selbstbestimmung der Patienten zu schützen. Aber das erfordert ein hohes Maß an Wachheit und Bewusstsein. Und auch kritische Aufmerksamkeit und Risikobereitschaft. Es sei wichtig, die Gebote der Datensparsamkeit zu beachten und sich möglichst nicht an die Telematik-Infrastruktur anzuschließen. Die Abrechnungsdaten fließen jetzt schon in die Forschung, ohne dass Patienten widersprechen können. Man sollte deshalb darauf achten, welche und wie viele Diagnosen man im Praxisverwaltungssystem festhält.“ „Wir müssen unsere Patienten auch viel besser über die Risiken der digitalen Kommunikation aufklären. Zum Beispiel über die Widerspruchslösung, die neue Opt-out-Lösung, die nun für die elektronische Patientenakte geplant ist. Wir müssen das tun, auch wenn uns das in den Praxen wertvolle Zeit kostet. Auch wenn diese Themen komplex sind: Wir müssen mit den Patienten darüber reden!“

Ärztliche Schweigepflicht nur noch als Auslaufmodell?

Nur noch staatliche Datenschützer bewahrten augenblicklich die Ärzteschaft vor dem völligen Verlust von Schweigepflicht und informationellem Selbstbestimmungsrecht, resümierte Dr. Silke Lüder in der Diskussion anschließend. Lauterbach habe 2002 die zentrale EPA mit ins Leben gerufen. Nun werde plötzlich aus der geplanten patientengeführten e-PA eine OPT-OUT EPA, aus der sich der Versicherte nur umständlich durch Ablehnung befreien könnten, die immer hoch gehaltene Freiwilligkeit für Patienten werde damit abgeschafft. Außerdem habe Lauterbach in dieser Woche angekündigt, der Pharmaindustrie den Zugang zu den Patientendaten zu öffnen, „man sieht also, wohin die SPD-Gesundheitspolitik inzwischen gekommen sei“. Das echte Chaos werde sich ab dem 1.1.2023 entwickeln, wenn ab diesem Termin das sogenannte „Arbeitsgeberabrufverfahren“ in Kraft tritt und die Versicherten keine schriftlichen AU-Bescheinigungen für den Arbeitgeber mehr bekämen. „Wenn sie dann auf Anfrage der Arbeitgeber doch ihren eigenen Durchschlag inklusive der codierten Diagnose abliefern, ist der Datenschutzskandal perfekt“, so Lüder.

Berichte über den Kongress Freier Ärzte finden sich beim Ärztenachrichtendienst (änd):   Debatte zur Digitalisierung auf FÄ-Kongress  und „Die Ärzteschaft muss beim Thema GOÄ gemeinsam reagieren“

Bei Heise online: „Patientenakte: Toxische elektronische Zugriffe auf die Identität des Menschen“

Und hier zu den Filmen von einem Teil der Vorträge.

Über die Freie Ärzteschaft e.V.

Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Vorsitzender des Bundesverbandes ist Wieland Dietrich, Dermatologe in Essen. Ziel der FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt.

V .i. S. d. P.: Wieland Dietrich, Freie Ärzteschaft e.V., Vorsitzender, Gervinusstraße 10, 45144 Essen, Tel.: 0201 68586090, E-Mail: mail@freie-aerzteschaft.de, www.freie-aerzteschaft.de

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